Ein musikalischer Spaziergang

"Weiße Nächte" in St. Petersburg

Seit der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski mit der Novelle "Die Weißen Nächte" Magie und Schönheit seiner Heimatstadt St. Petersburg besang, ist der Begriff "Bjelye Notschi" fest im Bewusstsein von Einwohnern und Besuchern verankert.

Kulturjournal, 30.06.2010

Die Weißen Nächte verwandeln Wiesen und Parks in üppiges Grün, wecken den dampfenden Duft der Erde, locken die Nachtigallen ins Sonnenlicht und beleben die tausendfältige Klangkunst. Überall wird Musik gemacht: vom Literatencafé "Der streunende Hund" bis hin zum traditionsreichen Mariinsky-Theater.

"Die Weißen Nächte – das ist für mich das wichtigste Festival überhaupt und auch als Naturerscheinung ist das ganz wunderbar. Aber das Festival Weiße Nächte, das ich organisiert habe, ist ein Kulturereignis, ein herrlicher Vorwand, eine Möglichkeit, die besten Opern und Ballette, Konzerte und Künstler zu präsentieren und unser bestes Repertoire vorzustellen." Intendant Valery Gergiev hat das Petersburger Mariinsky-Theater zum führenden Opernhaus des Landes gemacht.

Heute wird Tschaikowskys Kosakendrama "Mazeppa" gegeben. Der blaugoldene Vorhang mit den aufgemalten Troddeln teilt sich vor einem romantischen Bühnenbild. Blondbezopfte Trachtenmädchen und schnurrbärtige Haudegen bilden einen munteren Reigen. Doch die Dramatik der Handlung überlebt, dank der gekonnten Personenregie.

Saal für Konzerte

Das staatliche Marientheater kann aufgrund der Finanzkrise nicht mehr so glanzvoll auftrumpfen wie bisher: Die Saison 2010 bietet gegenüber den sonst üblichen elf Premieren nur noch die Hälfte an Neuinszenierungen.

Hinter der Fassade des ehemaligen Bühnenbilddepots entstand 2006 die Filiale des Mariinsky: ein holzverkleideter Saal in Form eines Amphitheaters, mit hervorragender Akustik, für Sinfoniekonzerte, Kammermusik und interaktive Vorstellungen, auch für Opernaufführungen. Hier probt Regisseur Aleksej Stepanjuk die atonale Oper "Mysterium des Apostels Paulus" des zeitgenössischen Komponisten Michail Karetnikov, bisher nur bekannt durch Filmmusik.

Zwei Orchester für fünf Millionen Einwohner

Gegenüber dem Luxushotel "Europa" ist seit 1931 der Sitz der Philharmonie. Sie beherbergt zwei Orchester: die St. Petersburger Philharmoniker mit Chefdirigent Jury Temirkanow und das Symphonische Orchester, geleitet von Alexander Dmitriew.

"Unser Orchester ist bedeutend jünger", sagt Dmitriew. "Es gibt sicher auch Qualitätsunterschiede, aber bei bestimmten Werken können wir getrost in Konkurrenz treten. Das andere Orchester hat eine größere Streichergruppe. Im Repertoire gibt es praktisch keinen Unterschied. Wir werden beide vom Staat finanziert. Bisher hat man noch nicht versucht, uns zu fusionieren, und ich hoffe, das bleibt auch so. Eine Fünfmillionenstadt wie Petersburg hat ein Recht auf zwei Orchester dieses Formats."

Nach der Konzertprobe erzählt Dirigent Nikolaj Alexejew vom Geheimnis des Großen Saals: "Dieser Saal hat einen ganz besondere Aura. Wenn man hier auftritt, überfällt einen so starkes körperliches Unwohlsein, dass man einen Arzt rufen möchte. Eine solche Erregung spüren wir in keinem Konzertsaal der Welt."

Alexejew wurde in der Glinka-Kapelle ausgebildet, der ältesten Musikinstitution Russlands. Seit 1974 ist Wladislaw Tschernuschenko ihr Leiter. Er hat die russische Sakralmusik, die während der Sowjetzeit verboten war, wieder in den Konzertsaal der Kapelle heimgeholt. Hier probt der Chor die "Russische Hochzeit" der Komponistin Irina Jeltschewa. "Wir bemühen uns, in unserem Repertoire Volkslieder in den verschiedenartigsten Formen zu bewahren. Bei Auslandsgastspielen führen wir meistens neben geistlicher Musik solche traditionellen Volkslieder auf", so Alexejew.

Crossover-Wettbewerb

Im hellen Konzertsaal der Petersburger Kapelle fand im März 2010 der erste Internationale Crossover-Wettbewerb statt, gegründet vom Terem-Quartett. "Dieser Wettbewerb lässt den Musikern ungeheuer viel Freiheit. Die Freiheit, die Stereotypen zu verlassen, das klischeehafte Denken zu überwinden. Die klassischen Interpreten dürfen die Noten links liegen lassen und ihren Phantasien Flügel verleihen. Die Jazzmusiker wiederum können lernen, innerlich umzudenken. Zwar schafft der Jazz einen wunderbaren musikalischen Freiraum, doch fehlt ihm oft die innere dramaturgische Struktur der klassischen Musik."

Bei diesem Wettbewerb zeigte sich die Ausstrahlung, die das Terem-Quartett nicht nur auf russische Nachwuchskünstler hat: es bewarben sich Musiker aus aller Welt.

Begeisterte Nachwuchs-Musiker/innen

Seit der Perestroijka hat sich das Musikleben von Petersburg stark verändert. Früher mussten Musiker im Westen ihren Lebensunterhalt verdienen. Heute finden sie hier ein Forum in Konzertsälen und außerhalb der klassisch-akademischen Szene, wie in Jazzklubs oder Cafés.

Im Aufnahmestudio des Terem-Quartetts gewann das Musikleben der Stadt im Mai 2010 eine neue Facette: mit der Gründung des Crossover-Orchesters, bestehend aus Musikern des Staatlichen Jugendorchesters und dem Terem-Quartett. An begeistertem Nachwuchs herrscht offensichtlich kein Mangel!

Rockstar Jury Schwetschuk

Ende Mai kam es im Rahmen eines literarisch-musikalischen Abends zur Begegnung zwischen Premier Putin und dem legendären Rockmusiker Jury Schwetschuk. Sie erörterten brennende Fragen, darunter zur Korruption der Polizei, zur Demonstrationsfreiheit.

In seinen Songtexten übt Schewtschuk beißende Kritik an der postsowjetischen Gesellschaft, aber er kann auch lyrisch und nachdenklich auftreten. Eine Mischung aus beidem findet sich ins einem aktuellen Videoclip "Weiße Nacht": Zu sehen ist ein düsterer Reigen von Zarengräbern und den Totenfeldern des Zweiten Weltkriegs, zu hören eine Liebeserklärung an seine Frau, die 1992 starb.

"Da streifte ich durch die Stadt. Die Nacht war weiß, mein Herz war schwer", erzählt Schewtschuk. "Überhaupt waren das sehr schwere Zeiten. Der ganze Abschaum, der Jahrhunderte am Grund geschlummert hatte, stieg hoch. So viele gebrochene Herzen und Schicksale zu Beginn der Perestrojka. All diese Emotionen, Kämpfe, Schreie. Und andererseits die göttliche Weiße Nacht. Millionen von Kerzen im Himmel entzündet. Eine wundervolle Zeit ohne Schatten. Denkt euch nur: Licht ohne Schatten!"

Übersicht

  • Klassik