Debütroman von Eleanor Catton

Die Anatomie des Erwachens

Die junge neuseeländische Autorin hat sich für ihr Romandebüt ein Feld ausgesucht, das seit geraumer Zeit von den Massenmedien beackert wird: Sex mit Minderjährigen. Wer eine eindimensionale Täter-Opfer-Geschichte erwartet, wird überrascht sein, denn Cattons fein gesponnener Text ist alles andere als das.

Was geschieht, wenn die Affäre zwischen einem Lehrer und einer 17-jährigen Schülerin auffliegt? Über die verbotene Affäre selbst wird nicht viel gesagt, der aus verschiedenen Perspektiven erzählte Plot handelt vor allem davon, was sie auslöst. Einer der Schauplätze ist die Saxofon-Stunde, in der drei der Hauptfiguren zusammentreffen: Isolde, die Schwester des Missbrauchsopfers, Julia, eine selbstbewusste Außenseiterin, und Bridget, ein farbloses Mädchen, das sich vergeblich um die Anerkennung der Saxofonlehrerin bemüht.

Das Saxofon ist das Kokain in der Familie der Holzbläser". (...) Saxofonisten werden bewundert, weil sie gefährlich sind, weil sie einer dunkleren, unheimlicheren Seite ihres Ichs auf den Grund gegangen sind. In deinem Spiel, Bridget, höre ich nichts, das schmutzig oder sexy oder verschwitzt oder hart wäre. Was ich höre ist blank und weiß-rosa geschrubbt, sediert und desinfiziert wie ein Zwergpudel auf einem Jahrmarkt.

Saxofon-Stunde als Bühne

Im Unterricht provoziert die Saxofon-Lehrerin die Schülerinnen zu völliger Offenheit und Hingabe. In erotisch aufgeladener Atmosphäre musizieren sie nicht nur mit Leidenschaft, sondern berichten auch über ihre intimen Erlebnisse. Die Lehrerin nennt diese Bekenntnisse - für sie die Höhepunkte des Unterrichts - "Auftritte". Sie versteht die Saxofon-Stunde als Bühne, auf der sich die Mädchen darstellen.

Isolde ist eines von ihnen. Ihre Schwester Victoria hat ein Verhältnis mit dem Lehrer Saladin. In der Highschool, die beide Schwestern besuchen, ist von "Missbrauch" die Rede, die Saxofonlehrerin spricht gar von "Vergewaltigung". Isolde beneidet ihre Schwester einerseits um ihre Opferrolle, durch die ihr viel Aufmerksamkeit zuteil wird, andererseits um ihren Erfahrungsvorsprung. Denn Victoria ist nicht traumatisiert, sondern sexuell erwacht. Sie wurde verführt und empfindet ihre Rolle ganz anders als die Erwachsenen.

Jetzt sagen die Leute, ich sei ein Kind gewesen, das unrechterweise in die Rolle einer Erwachsenen gedrängt wurde. Sie nennen es eine Erwachsenenbeziehung, unrechtmäßig und unpassend und verfrüht. Es war genau das Gegenteil. Es war Mr. Saladin, der eine Teenager-Beziehung hatte, das Rücksitzgeflüster und Anfassen an der Tür und das Vor-Mitternacht-zu-Hause-sein-Müssen, das Warten, bis die Eltern ins Bett oder nach Haus gehen, die chiffrierten oder heimlich geschickten Nachrichten. Ich habe nicht die Erwachsene gespielt. Sondern Mr. Saladin das Kind.

Sehnsüchte und Fantasien

Lehrer, Schulpsychologe und Eltern sehen in erster Linie die Straftat. Ihre Maßnahmen liegen zwischen Aufklärung und Prüderie. In ihrer Wortwahl verschwimmen die Begriffe, alles wird dasselbe, Verführung, Missbrauch, Vergewaltigung.

Die Schülerinnen sind zutiefst verunsichert. Die Warnungen der Erwachsenen widersprechen den Sehnsüchten und Fantasien ihrer erwachenden Sexualität, die vom "Fall Saladin" inspiriert sind. Sie spüren einerseits eine Gefahr, andererseits fühlen sie sich dadurch, dass für eine von ihnen das Erotische zur Realität geworden ist, benachteiligt, unzulänglich, hinten.

"Heute gibt es so was wie Unschuld nicht mehr", sagte das Mädchen. "Es gibt nur Unwissenheit. Du denkst, du hast was Reines gefunden, aber weit gefehlt. Du hast einfach keine Ahnung. Du bist beeinträchtigt durch alles, was du noch nicht weißt."

Fiktion und Realität verschwimmen

Die Verführte teilt ihr Geheimnis nicht mit den Mitschülerinnen, die verbotene Affäre wird so Gegenstand von Mutmaßungen und Imagination. Als die Schüler des benachbarten Schauspielinstituts die Affäre in ihrer Abschlussarbeit als Stück auf die Bühne bringen, verschwimmt die Fiktion mit der realen Welt der Jugendlichen. Oder besser: kollidiert. Denn der Hauptdarsteller, der ernsthafte und ambitionierte Stanley, dessen Entwicklung in einer Nebenhandlung geschildert wird, verliebt sich in Isolde, die reale, 15-jährige Schwester der Hauptfigur im Stück.

Eleanor Catton liefert keine Resultate ethischer Überlegungen. Ethisches Denken mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit ist ihre Sache nicht. Sie hält die Frage nach Schuld oder Erfahrung in Schwebe. So lässt sie die Saxofonlehrerin sagen:

Schuldgefühle sind vor allem eine Ablenkung. Sie lenken uns von tieferen, wahreren Gefühlen ab. (...) Nehmen wir an, du fühlst dich zu jemandem hingezogen, mit dem du nicht zusammen sein darfst (...), es packt dich ein Schuldgefühl. Was, glaubst du, ist die ursprünglichere der beiden Empfindungen, die Anziehung oder das Schuldgefühl? (...) Schuld ist zweitrangig. Schuld ist ein oberflächliches Gefühl.

Dynamisches Stückwerk

Ebenfalls in Schwebe wird die Frage nach Wahrheit oder Erfindung gehalten. Die gesamte Handlung scheint eine Bühne mit dialogisierenden Schauspielern zu sein. Die Schauplätze, die anfangs zwischen der Highschool mit ihren Saxofonstunden und der Schauspielschule mit ihren Selbsterfahrungsexperimenten wechseln, gehen im Laufe der Geschichte immer mehr ineinander über, werden schwer unterscheidbar. Was ist Bühne und was Leben? Oder ist das ohnehin dasselbe?

Mit erzählerischer Distanz manipuliert Eleanor Catton Zeitebenen und Spielorte und schafft so ein dynamisches Stückwerk, das nicht nur der fragmentierten Identität des Pubertierenden entspricht, sondern auch als Erzählung funktioniert. "The Rehearsal", wie der Roman im Original heißt, spielt nicht nur mit der Vorstellung des Heranwachsens als Probe, er ist auch selbst eine. Eine gelungene.

Service

Eleanor Catton, "Die Anatomie des Erwachens", aus dem Englischen übersetzt von Barbara Schaden, Arche Verlag

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