Von Kurt Fleisch

Briefe an Herrn S. - Teil 2

Der Psychiater verordnet postalisch Benzodiapezine, Haloperidol und andere Antipsychotika, unternimmt haarsträubende Selbstversuche, entwickelt seltsame Maschinen und empfiehlt das Irrenhaus als Schutzhaus und als Ort der Ruhe und Stabilität.

6. Brief an Herrn S.

Mittwoch, 20. Januar 2010

Geschätzter Herr S.,

Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen: das Beben auf Hispaniola hat nicht stattgefunden. Ich hoffe, Sie sehen also von Ihrer Idee, eine Bank zu überfallen, um die Beute zu spenden, ab. Das hätte groteske Züge: Ihre Beute würde wieder zu jenen gelangen, denen Sie sie abgenommen haben. Ich bin immer wieder überrascht, wie spendenfreudig die Menschen werden, wenn bloß ein paar Pixel die richtige Form bilden, während Sie in Ihrem Alltag hasserfüllt, egoistisch und voller Gier und Neid umherirren. Die Pixel, die ich meine, sind die ihres übergroßen LCD-Fernsehers oder ihres Computerbildschirms, der irgendwelche Haiti-Facebook-Gruppen-Schriftbilder zeichnet. Die letzten beiden verbliebenen Götter in dieser gottlosen Welt, die Sie, mein lieber Herr S., sehen, sobald Sie Ihre Augen schließen, haben mir offenbart, dass kein Beben stattgefunden hat, vielmehr erwächst ein neues, durch Spendengelder finanziertes System an Bonuszahlungen für Banker aus der toten Erde. Ganz richtig! Herr S., Sie erkennen gewiss die Absurdität, die den großen Schatten der Apokalypse über unser aller Köpfe wirft - nur das Lachen eines metaphysischen Clowns ist zu hören. Ihn sollten sie, die Menschen, anbeten, nicht die falschen Götter!

Der Grund meines Briefes ist, wie so oft, wenn ich Ihnen schreibe, meine Sorge um Ihren Geisteszustand. Ich hoffe, Sie betreiben Ihren gegenwärtigen Aufbau des Bunkers im Bewusstsein einer ebensolchen Absurdität. Wenn Sie nämlich den Witz Gottes vergessen, sind Sie schon verloren. Nicht, dass ich damit sagte, die ordinären Handlungen aller übrigen wären weniger absurd, als Ihre ehrenwerte Mission, doch wie Sie wissen, wissen Automaten nicht, dass sie leiden, wenn sie leiden - und sie leiden in der Tat unter ihrem alltäglichen Marsch zu ihrer völlig jenseitigen Erwerbsarbeit! Falls Sie also, Herr S., nicht lustvoll und von Glück erfüllt, sondern vom Motor der nackten Angst getrieben sind, während Sie die 10kg-Packungen Lachsaufstrich palettenweise in Ihrem Bunker stapeln, müsste ich Sie abermals ins Irrenhaus bringen lassen.

Mit der Bitte um baldigen Bericht sendet Ihnen herzliche Grüße,
Ihr Herr H.

7. Brief an Herrn S.

Sonntag, 31. Januar 2010

Lieber Herr S.,

ich schreibe Ihnen bereits aus Konstantinopel. Die Reisestrapazen haben mich müde gemacht, ich werde Sie betreffend meines Berichts also noch einen weiteren Tag warten lassen müssen. Heute habe ich mir nur Kaffee und Tabak besorgt, um mich selbst sorgend - mein Diener wird erst morgen eintreffen. Wenn ich über den Schlund blicke, kommt mir wieder dieses Bild in den Sinn: das scharf gespannte Seil, gespannt zwischen dem Anfang und der Hoffnung. Und oben, am Seil, dort tänzelt ein Mensch, verzweifelt, nicht in den Abgrund zu stürzen. Seine Fußsohlen, die sind blutig, aufgerieben vom Seil - die Blutspur zieht sich von Anfang an, entlang dieses Seils bis zu ihm, und wird sich weiter ziehen bis zum Ende des gespannten Seils: die Hoffnung treibt ihn an. Während ich diesen kämpfenden Menschen am Seil beobachte, zweie ich daran, dass er das Ende erreichen wird können. Ich zweifle, er ver-zweifelt. Gleichermaßen hat auch er mich in seinen Blick genommen, mich beobachtend. Derselbe Ausdruck in seinen, wie in meinen Augen. Er wird in die Tiefe des schwarzen Schlundes stürzen, denke ich, wenn er sich nicht selbst zuvor an dem ihn tragenden Seil - ausgerechnet - erhängt. Dieses Seil, diese Aufgespanntheit, das ist die je gegebene Zeit. Das Tanzen am Seil, das uns die Haut von unseren Knochen reibt, bis wir einen Schritt vor Erreichen der Hoffnung in die Tiefe stürzen, wohl längstens schon verendet... dieses Tanzen, Herr S., dies ist das Leben.

Lieber Herr S., es wird Sie in den nächsten Tagen mein Reisebericht erreichen.

Ich erwarte Ihre Antwort erst auf diesen folgend!

Der Gekreuzigte

8. Brief an Herrn S.

Freitag, 12. Februar 2010

Sehr geehrter Herr S.,

zunächst muss ich mich bei Ihnen entschuldigen, Sie so lange auf meinen Brief warten zu lassen. Mein Diener M. ist nicht in Konstantinopel angekommen - während der Reise ist bei ihm eine hochgradige Manie ausgebrochen (er bezeichnet sich jetzt als "Dr. Phallus" und befindet sich gegenwärtig immer noch im Osten Ungarns, um dort mit bloßen Händen eine fünfzig Meter hohe Penis-Skulptur zu errichten). Nun, nach meiner heutigen Ankunft in Wien musste ich erstens auf den Opernball. Es ist ein Skandal, dass ich heuer der einzige Demonstrant war! Sie, mein lieber Herr S., sind selbstverständlich entschuldigt, da der Aufbau des Bunkers äußerst kräfteraubend ist, wie ich weiß. Dankenswerterweise haben Sie es tatsächlich vollbracht, während meiner Abwesenheit, den Alprazolambestand auf 350g aufzustocken! Ich werde dies in meinem Empfehlungsschreiben berücksichtigen.

Ich hatte in Konstantinopel kaum eine freie Minute. Meine Vorträge über die Ergebnisse meiner Studie "Neuroleptika bei Säuglingen" wurden begeistert aufgenommen. Sie werden gerne hören, dass ich zudem alle unsere Ziele erreicht habe: ich konnte mir einige MRT-Geräte ansehen, bestellte schließlich ein Ultrahochfeld-System mit einer Feldstärke von 12 Tesla. Es steht bereits in meinem Wohnzimmer.

Die Kryostase betreffend werden nächste Woche drei Stickstofftanks geliefert. Ich werde Ihnen die genauen Spezifikationen nachliefern, aus Gründen der knappen Zeit soll es hier genügen anzumerken, dass wir bald vollständig ausgestattet sein werden, wie ich Ihnen versichern kann.

Sie werden verstehen, Herr S., wenn ich Ihnen von meinen persönlichen Erfahrungen später berichte - ich muss mir erst einen neuen Diener suchen.

Ihr erschöpfter
Herr H.

9. Brief an Herrn S.

Samstag, 13. Februar 2010

Geschätzter Herr S.,

es war richtig, mich sofort von Ihrer neuerlichen Einweisung ins Irrenhaus in Kenntnis zu setzen - Sie wissen, dass die Uhrzeit in solchen Notfällen keine Rolle spielt. Ich habe eben dem diensthabenden Arzt empfohlen, Sie vorerst mit 10mg Haloperidol täglich zu therapieren. Selbstverständlich werde ich heute Morgen zu Ihnen kommen, um nach Ihrem Geisteszustand zu sehen, und Ihnen, wie gewünscht, Wilhelm Reichs The Function of Orgasm bringen. Betreffend Ihre Sorgen kann ich Sie mit meiner Überzeugung, dass der moderne Szientismus durch die Verkehrung der Wahrheitswerte eine ebensolche Vergewaltigung des Geistes durchführt, wie die übrigen Religionen, insofern beruhigen, als dass diese damit verschüttete Wahrheit, unserer Skepsis und also jeder Hoffnung ihre Kraft verleiht.

Ihr Herr H.

10. Brief an Herrn S.

Freitag, 05. März 2010

Lieber Herr S.,

mein neuer Diener hat sich nun endlich eingearbeitet. So bleibt für mich wieder mehr Zeit, Ihnen zu berichten. Es freut mich außerordentlich, dass Sie, mein lieber Herr S., wie mir Ihr Arzt heute persönlich versichert hat, sich bereits wieder in einem so genannten "normalisierten" Geisteszustand befinden und bald in häusliche Pflege entlassen werden können.

Einer meiner Patienten hat mir kürzlich einen Zettel zugesteckt, auf den er folgendes geschrieben hatte:

Mein Hals, umschlungen
von geschwollenen
Schamlippen.
Das Pumpen meiner Halsgefäße
bezwungen.
(Mein Hirn explodiert.)

Die MRT-Aufnahme seines Gehirns zeigte eine um 148% vergrößerte Amygdala, die ich daraufhin vollständig chirurgisch entfernt habe. Nach der Operation meinte der Patient, er wisse nicht, was Schamlippen seien, und im Grunde interessiere es ihn auch nicht. Ich werde ihn weiter beobachten.

Das MRT-Gerät versetzt mich in die Lage, sämtliche Geisteskrankheiten auf Basis der anatomischen Strukturen des jeweiligen Gehirns zu identifizieren - es erfüllt damit den erhofften Zweck. Ich werde Ihnen bei Gelegenheit meine Studien
präsentieren.

Ihr Herr H.