Das Schwimmbad als Menschenrecht

Der nasse Bürger

Es gibt Gefühle, die sich kaum beschreiben lassen: Schwimmen im Freien bei null Grad Außentemperatur - je kälter der Wind pfeift, desto wohler tut das Wasser. (Fast) kostenlose Bäder zählen zum Besten auf der Vulkaninsel, heben Lebensqualität und Lebenserwartung.

Morgens um 6:30 Uhr öffnen die städtischen Schwimmbäder (Sundlaugar). Schwarze Lackschuhe stehen vor den Umkleiden neben Stiefeln mit Stahlkappen oder solchen mit Absätzen. Noch vor dem Frühstück beginnen viele den Tag im Thermalwasser, am Weg ins Büro oder in die Werkstatt.

Im Lauf des Tages wird die halbe Bevölkerung passieren: Vormittags Schulklassen und Senioren, nachmittags Touristen und noch einmal Kinder. Dann Manager und Bauarbeiter, die es in der Früh nicht geschafft haben, bis zum Badeschluss um 21:00 Uhr oder 22:00 Uhr. Das größte Schwimmbad von Reykjavík hatte diesen Juli sogar fünf Nächte durchgehend geöffnet.

Im dampfend heißen Bottich wird diskutiert, aktuelle Politik oder das Fußballspiel des Vorabends. Man tauscht Neuigkeiten aus dem Freundeskreis aus, unterhält Bekannte wie Unbekannte mit Witzen oder der eigenen Lebensphilosophie. Wasser regt an.

Menschen ab 67 Jahren schwimmen gratis, zumindest in Reykjavík und einigen anderen Orten. Die täglichen 200 Meter, die fünf, zehn oder zwanzig Längen gehören zum fixen Programm vieler Pensionierter. Hält die Bewegung sie länger gesund als anderswo? Der regelmäßige Kontakt mit anderen? Oder beides, und anderes: die frische Luft, der Fisch am Speiseplan?

Vielleicht ist die Schwimmbad-Nahversorgung nirgendwo sonst so gut: 170 Bäder soll es in Island geben, nach anderen Informationen gar 200. Eines auf nicht einmal zweitausend Einwohner.

Die Palette reicht vom Sportzentrum mit Olympiabecken bis zum Mini-Pool zwischen Tankstelle und Fußballplatz, gerade einmal ein paar Stunden geöffnet; von modernem Design bis zu spartanischem Chic: Umkleiden im Freien, eine Holzpritsche, ein Betonboden.

Touristen zieht es vor allem in die spektakuläre Blaue Lagune (Bláa lonid) südwestlich von Reykjavík, am Weg zum Flughafen in Keflavík. Von Einheimischen wird sie wenig besucht: 28 Euro Eintritt für ein Schwimmbad, das wird als schier unmöglich empfunden.

Das Strandbad (sic!) von Reykjavík ist dagegen gratis. Auch hier ist die Kulisse nicht schlecht, dazu gibt es warme Duschen und Kinderbecken. Die meisten anderen öffentlichen Bäder in Island kosten um die zwei, höchstens drei Euro, dafür bieten sie Dampfbäder und Massagedüsen, Kinderspielzeug und Rutschen.

In den sieben Schwimmbädern Reykjavíks haben alle Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre jetzt freien Eintritt - eine der ersten Maßnahmen der neuen Stadtregierung. "Ein nasser Bürger ist ein glücklicher Bürger", sagt Bürgermeister Jón Gnarr.

In praktisch keinem Bad aber fehlt das Wichtigste: ein oder mehrere "heiße Töpfe" (Heitir pottar) von 38 bis 42 Grad. Nichts entspannt besser, die Waden nach einer Wanderung, den Allerwertesten nach einem Ausritt. Und sogar in Island kann man beim Suhlen im Schwefelwasser sonnenbaden.

An einem windig-kalten Tag vor einigen Jahren, bei unserem letzten Islandbesuch, betrachteten wir (in voller Goretex-Montur) fassungslos ein Freibad: Kinder, die im Freien tollten, Mütter, die nasse Säuglinge in den Wind hielten. Zuhause in Mitteleuropa würden sie vermutlich angezeigt werden.

Inzwischen wissen auch wir: Gerade im grimmigsten Winterwetter, wenn man sich nicht vorstellen kann, wie man es von den Duschen (gründliche Haar- und Intimwäsche ohne Badeanzug verpflichtend) zum Becken schaffen soll - gerade dann ist das Baden am großartigsten. Unverzichtbar. Es wärmt durch und durch, gibt die Kraft für Stürme und Frost.

Ob die Wikinger - korrekter gesagt: die Auswanderer aus Skandinavien - der heißen Quellen wegen in Island geblieben sind? Vermutlich nicht; schließlich siedelten sie auch in Landesteilen ohne geothermische Aktivität. Zu schätzen wussten sie das Thermalwasser sicher. Vom mittelalterlichen Skalden Snorri Sturluson ist nicht viel erhalten - außer einigen Hauptwerken der Weltliteratur und dem Ort, in dem er sie erdacht haben mag: Ein rundes, mit hübschen Steinen eingefasstes warmes Bad.

Service

Snorri Sturluson, "Heimskringla. Sagen der nordischen Könige", übersetzt und herausgegeben von Hans-Jürgen Hube, Marix Verlag

Snorri Sturluson, "Prosa-Edda", übersetzt von Arthur Häny, Manesse Verlag

"Die Edda des Snorri Sturluson", übersetzt und kommentiert von Arnulf Krause, Reclam

Swimming in Iceland