Erfahrungen von István Örkény

Das Lagervolk

"Schweren Herzens lasse ich euch wissen, dass ich am Leben bin..." Mit diesen Worten verständigte ein ungarischer Kriegsgefangener seine Verwandten, als er ihnen nach dem Krieg endlich schreiben konnte. Etwa eine halbe Million Ungarn lebte in Lagern, unter ihnen war auch einer der bedeutendsten Schriftsteller Ungarns, und er wurde ihr Chronist: István Örkény.

Örkény war 1943 in russische Gefangenschaft geraten und konnte am zweiten Weihnachtstag 1946 in sein Budapest zurückkehren. Mit einem Bleistiftstummel machte er im Lager seine ersten Notizen auf Tabakpackungen, die er von Russen erhielt. Das Buch, das dann daraus entstand, nannte er treffend eine "Soziographie des Kriegsgefangenenlagers".

In der Tat ist dieser Roman eine Frühform dokumentarischer Literatur – sein zweiter Teil beinhaltet nichts anderes als die ungeschminkten Erzählungen von acht Gefangenen. Örkény sagte in einem Interview: "Ich tat nichts anderes, als sie sprechen zu lassen, die schriftstellerische Arbeit bestand lediglich darin, gerade diese Personen ausgewählt zu haben."

Grundstrukturen des Lagerlebens

Der erste Teil des Romans, später entstanden, beschreibt die Grundstrukturen des Lagerlebens und des Erlebnisses der Gefangenschaft. "Die Gefangenschaft ist nicht eine Frage von Raum, sondern von Zeit", heißt es da einmal. Das heißt, man könnte sich abfinden mit Heimweh und beschränkter Bewegungsfreiheit, wenn man nur wüsste, wann es zu Ende ist.

Als weitere Grunderfahrung notiert Örkény, "dass die Grundlage des menschlichen Selbstbewusstseins bis heute ein Stück Brot ist. Erst danach kommt alles andere, Träume, Liebe, Sehnsucht, Verliebtheit, Dankbarkeit und sogar die Erinnerung. Sie gibt es nur, wenn man das Stück Brot in der Hand hält."

Flucht in die Phantasie

Schmucklos und manchmal auch spröde beschreibt der Autor, was er sieht und erlebt, doch an manchen Stellen bricht ein Pathos durch; ohne erzählerische Kunstgriffe ist sein Text, und über weite Strecken meint man, eher die Aufzeichnungen eines Feldforschers nach dem Prinzip der teilnehmenden Beobachtung zu lesen als einen Roman. Man liest vom absoluten "Nullpunkt der Gefühle", von Abgestumpftheit und Gleichgültigkeit, vom Verlust der Erinnerungen, vom Verlust der Scham voreinander.

"Die Gefangenschaft ist ein Leben ohne Rausch. Nicht nur der Rausch der Liebe fehlt, auch der des Weines, des Frühlings, der Jugend und der Freiheit", heißt es einmal. Oder: "Es gibt nur eine Fluchtmöglichkeit - ins Reich der Vorstellungskraft." Und mehr als zwei Seiten sind dem überlebenswichtigen Ritual des Brotholens gewidmet.

Tatsachen statt Wahrheiten

Das ist das Faszinierende an Örkénys "Lagervolk": dass er ganz bei den alltäglichen Vorgängen bleibt und sich zurückhält mit Generalisierungen und Deutungen. Er vergisst nicht, was er schon auf den ersten Seiten festgehalten hat: "Nichts verfälscht die Wahrheit so sehr wie die Tatsachen." Auch ideologisch will er keine Wahrheit verkünden, sondern bleibt bei den Tatsachen, wenn er das autoritäre Zwischenkriegs-Ungarn beschreibt, das noch im Lager das Verhältnis zwischen Offizieren und einfachen Soldaten prägt.

Klar zeichnet sich auch die verschiedene ideologische Orientierung der Gefangenen ab, und auch ihr Veränderungsprozess – wie sich die Propaganda des eigenen Landes als falsch herausstellt und so etwas wie "Sympathie für den Feind" entsteht.

Beeindruckend auch die Veränderungen, sobald die Gefangenen arbeiten können oder die Möglichkeit haben, auch nur den einfachsten kulturellen Aktivitäten nachzugehen. Aus diesen Erfahrungen könnte sogar das heutige Österreich für seinen Umgang mit Asylsuchenden lernen.

Erschütternde Geschichten

Höchst unterschiedlich sind die Lebensläufe und Bewusstseinszustände, die in den acht Gesprächsprotokollen zur Sprache kommen. Gleich zu Anfang beschreibt ein ehemaliger Pfeilkreuzer, wie seine Faszination für die ungarische Form des Nationalsozialismus entstand. Danach folgt ein Tagelöhner, und wenn er die Zustände auf einem herrschaftlichen Gut oder die Brutalität der Gendarmen beschreibt, glaubt man, nicht mehr im Europa des 20. Jahrhunderts zu sein.

Und die Zustände in den großen Fabriken sind zwar anders, aber kaum menschenwürdiger. Kalte Schauder jagen einem die Kindheitsgeschichten über den Rücken, die hier erzählt werden. Ein Weber, ein Dreher und ein Fleischer kommen zu Wort, aber auch ein Bankangestellter, ein Musiker und ein ehemaliger Mönch.

Kein Wort über den Holocaust

Bis heute ist dieses Buch wichtig, um Ungarn zu verstehen, seine politischen Aporien, seinen Umgang mit der Geschichte und seiner wieder aufflammenden Rechtsradikalismus. Liest man Örkénys Roman, so wünscht man sich, es hätte ein ähnliches Buch in Deutschland oder Österreich gegeben, das die Erfahrungen von Kriegsgefangenen zur Sprache gebracht hätte.

Nur in einem Punkt spiegelt auch Örkenys großartig-genauer Dokumentarroman den Bewusstseinszustand im kommunistischen Totalitarismus wider: Der Jude Örkény kritisiert zwar den alten Antisemitismus, doch auch er verliert kein Wort über den Holocaust und beschreibt Juden, die sich, nach allem, was ihnen in Ungarn und nicht erst unter den Pfeilkreuzlern geschehen ist, nicht mehr so einfach als Ungarn bezeichnen und fühlen können, mit Unverständnis und Distanz.

Der renommierte Übersetzer des Buches, Laszlo Kornitzer, richtet deswegen einen fiktiven Brief an seinen 1979 verstorbenen Autor - ein ziemlich einmaliges, doch für dieses Buch sehr notwendiges Unterfangen. Um zu verstehen, warum die neue Diktatur die Erinnerung an den Holocaust der Vorgänger-Diktatur nicht ertrug, müsste man Imre Kertész lesen – schade, dass er in seinem kurzen Nachwort nicht auch darauf eingegangen ist.

Noch immer gültiges Basisdokument

Die Edition des Buches ist vorzüglich, vor allem hat der Übersetzer alle vorkommenden Personen der ungarischen Geschichte aufgeschlüsselt. Schade, dass er das nicht auch bei den Orten getan hat, denn wer weiß schon, dass Löcse das heutige ostslowakische Lovoca ist, das auf Deutsch einmal Leutschau geheißen hat. Außerdem ist dem erfahrenen Übersetzer ein grotesker Fehler passiert, der offenbar unbemerkt blieb: Die Kirche im westungarischen Ják wird als rumänisches anstatt als romanisches Bauwerk bezeichnet – das ungarische Wort román steht als Homonym für beide Bedeutungen.

Ansonsten bleibt nur zu sagen: István Örkény muss man unbedingt lesen – sowohl seine 2002 auf Deutsch erschienenen "Minutennovellen" als auch den Roman "Das Lagervolk", ein noch immer gültiges Basisdokument von Lager-Erfahrungen im 20. Jahrhundert.

Service

István Örkény, "Das Lagervolk", mit einem Nachwort von Imre Kertész, aus dem Ungarischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Laszlo Kornitzer, Suhrkamp

Suhrkamp - István Örkény