Der Fall des Biologen Paul Kammerer

Der Krötenküsser

1971 veröffentlichte Arthur Koestler ein Buch über den Biologen Paul Kammerer, der in den 1920er Jahren behauptet hatte, dass augenlosen Tieren Augen gewachsen wären und sie diese Eigenschaft auch vererben würden. Dieser Sachbuch-Klassiker wurde jetzt neu aufgelegt.

Vom Star-Biologen zum Scharlatan

Der Fall des Biologen Paul Kammerer war für den Schriftsteller Arthur Koestler wie geschaffen. Koestler - Zionist, Kommunist, Spanienkämpfer, Antifaschist und bald auch glühende Antikommunist, Kalte Krieger und Präsident des internationalen P.E.N.-Clubs -, befand sich immer an zeitgeschichtlich vorderster Front. Der Großteil seiner Bücher waren Bestseller.

Als in den 1960er und 1970er Jahren die großen ideologischen Schlachten des Jahrhunderts geschlagen waren, begann er populärwissenschaftliche Prosa zu schreiben. Wissenschaft war "in". Es war eine Zeit, in der Freiheit anhand der Unschärferelation bewiesen wurde und gute Gemüter sich über Konrad Lorenz und "Das sogenannte Böse" erregten.

Aufsehen in den 1920ern

Koestler, der immer schon an den obskuren und obskurantismustauglichen Rändern der Naturwissenschaften interessiert gewesen war, entdeckte damals - nach dem Geist in der Maschine - im Jahre 1971 Paul Kammerer. Vermutlich hatte er schon in den 1920ern Jahren, während seines Studiums in Wien, von diesem gehört.

Der Biologe Kammerer war damals ein Star gewesen - bevor er zum wissenschaftlichen Scharlatan erklärt wurde und seinem Leben mit Selbstmord ein dramatisches Ende setzte. So titelte etwa der Londoner "Daily Express" vom 1. Mai 1923 anlässlich eines bevorstehenden Kammerer-Vortrages:

Großartige Entdeckung der Wissenschaft - Augenlosen Tieren wachsen Augen - Wissenschaftler behauptet, Übertragung guter Eigenschaften entdeckt zu haben / Genie vererbbar / Umgestaltung der Menschheit!

Worum es bei den Forschungen des Wiener Biologen über Lurche, Olme und Salamander genau ging, oder genauer gesagt, wie man sie einem breiten Publikum verkaufen konnte, machte die Zeitung in ihrer Abendausgabe desselben Tages noch deutlicher:

Auf dem Weg zum Supermenschen / Großartige Entdeckung eines Wissenschaftlers kann uns alle verändern / Genie vererbbar.

Die Werbeinschaltungen zahlreicher evolutionsbiologischer Forschungsprojekte funktionieren bis heute so. Anstatt um Genie geht es dabei - massenwirksamer - meist um Sex, um "Verkaufsverhalten" oder dergleichen.

Der Zoologe und die Amphibien

Koestler erzählt den Fall des Biologen Kammerer nicht gerade als Frankenstein-Story, versteht es aber sehr wohl unter dem Deckmantel der Recherche eines wissenschaftlichen Streites zwischen Darwinisten und Lamarckisten eine Art Thriller samt Suspense zu inszenieren.

Aber der Reihe nach: Paul Kammerer, 1880 in Wien als Sohn eines Fabrikanten von optischen Geräten geboren, erweist sich früh als begeisterter "Terrarianer". In der elterlichen Wohnung züchtet er Geckos und Salamander, es folgt ein Studium der Zoologie. Die daran anschließende Anstellung in der "Biologischen Versuchsanstalt", dem so genannten Vivarium im Wiener Prater, führt zu umfangreichen Forschungen mit diversen Amphibien. Laut Koestler attestierten ihm seine Kollegen Folgendes:

Kammerer war eine Art Zauberer im Umgang mit Eidechsen. Er verstand es, Amphibien unter künstlich veränderten Umweltbedingungen zu züchten wie keiner vor und nach ihm.

Liebschaft zu Alma Mahler

Mehr als hundert Aufsätze und Vorträge, Forschungsreisen nach Dalmatien und in den Sudan folgten - die erhoffte Professur erhielt der 1910 habilitierte Kammerer nicht. Allerdings umgibt den Biologen, der neben seinem Studium am Konservatorium Kontrapunkt gelernt hatte, der Geruch des Mondänen: Er ist mit dem Dirigenten Bruno Walter und dem Komponisten Alban Berg befreundet. Wie es der Zufall will, wird die Witwe des angebeteten Gustav Mahler eine Zeit lang sogar Kammerers Assistentin und Geliebte. Alma Mahler erinnerte ihn später auf folgendermaßen delikate Weise:

Wenn ich von einem Sessel aufstand, kniete er nieder und beroch und streichelte den Sesselplatz, auf dem ich gesessen war. Es war ihm dabei ganz egal, ob Fremde im Raume waren, oder nicht. Er war auch durch nichts von solchen Extravaganzen, deren er in Fülle hatte, abzuhalten.

Beweis für Lamarckismus

Brunftschwielen rein tierischer Art, nämlich jene der Geburtshelferkröte, machten Kammerer weltberühmt und - berüchtigt. In einer Serie von Züchtungen schien ihm der Beweis gelungen, dass Lebewesen imstande sind, erworbene Eigenschaften an ihre Nachkommen weiterzuvererben.

Die grundsätzlich an Land sich paarende Geburtshelferkröte tat dies in Kammerers Terrarium-Experiment auch im Wasser: Dabei klammern sich die Männchen am Rücken der Weibchen fest; und genau für diesen Zweck werden so genannte Brunftschwielen ausgebildet. Dass diese weiter vererbt werden könnten, glaubten die Darwinisten jener Zeit nicht.

Ein Großteil des "Krötenküssers" behandelt die verwickelten kontinentaleuropäisch-britischen und transatlantischen Dispute darüber: Ideologische Richtungsstreitigkeiten und Missverständnisse spielen dabei ebenso eine Rolle wie einfaches Misstrauen und materielle Probleme nach dem Ersten Weltkrieg, im Zuge dessen ein Großteil von Kammerers Züchtungen zugrunde gegangen war.

Beziehungen nach Russland

Kammerer war - in der damaligen Terminologie - überdies "Halbjude", Sozialist, großbürgerlicher Herkunft, und er war ehrgeizig. Der Verdacht, dass er seine Ergebnisse im Fall der Geburtshelferkröte fingiert und seine Präparate manipuliert hatte, ist bis heute nicht ganz beseitigt. Auf seinem Höhepunkt schien der Skandal, an dem zahlreiche prominente Wissenschaftler direkt oder indirekt "beteiligt" waren, noch eine kuriose Wendung zu nehmen. Koestler schreibt dazu:

Der Streit - um das Vorhandensein der Brunftschwielen der Geburtshelferkröte - schuf Vorbedingungen für ein Schauerdrama mit makabrem Ausgang. Die Geschichte wurde sogar verfilmt, und zwar im Russland Stalins. In der Sowjetunion war die offizielle Wissenschaft auf die Parteilinie eingeschworen und damit - im Gegensatz zum Darwinismus des Westens - der Lamarckschen Evolutionstheorie verpflichtet.

Die Russen drehten nicht nur einen Film, in dem Kammerer mit sowjetischer Hilfe düsteren katholischen und faschistischen Machenschaften entfliehen konnte - sie luden ihn überdies nach Moskau ein, um dort im Rahmen der Akademie der Wissenschaften sein eigenes Forschungs-Institut aufzubauen.

Tragisches Ende

Aus bis heute ungeklärten Gründen brach Kammerer schließlich die Vorbereitungen dafür ab. Nachdem seine Forschungsergebnisse von prominenten Wissenschaftlern angezweifelt wurden, schreibt er nach Moskau:

Ich sehe mich außer Stande, diese Vereitelung meiner Lebensarbeit zu ertragen und hoffentlich werde ich Mut und Kraft aufbringen, meinem verfehlten Leben morgen ein Ende zu bereiten.

Gesagt - getan. Am 22. September 1926 erschießt sich Paul Kammerer in Puchberg am Schneeberg. Nebenbei auf ein wenig rätselhafte Weise: Er hält mit der Rechten einen Revolver hinter das linke Ohr und drückt ab.

Neuausgabe des Klassikers

Arthur Koestler hat mit "Der Krötenküsser" einen Klassiker des Sachbuches verfasst: Neben einigen Schwächen, die es auch aufweist, darf man das Buch als mustergültiges Beispiel einer kulturwissenschaftliche Fallstudie bezeichnen - dazu wird die Neuausgabe vor allem auch aufgrund eines umfangreichen und instruktiven Nachworts.

Last but not least: Warum der Krötenküsser "Krötenküsser" heißt, das muss der Leser selbst herausfinden.

Service

Arthur Koestler, "Der Krötenküsser - Der Fall des Biologen Paul Kammerer", aus dem Englischen von Krista Schmidt, Czernin Verlag

Czernin Verlag