Die Geschichte einer unmöglichen Liebe

Meerjungfrauen

Das seltsame Wesen, das einen Fischunterleib hat und dessen Oberkörper und Gesicht eine wunderschöne Frau ergibt, ist fast so alt die christliche Zeitrechnung. Andreas Kraß hat eine Gesamtschau zum Mythos jener Damenwelt verfasst, die Flüsse, Seen und Meere bewohnt.

Wien verfügt über den rechten genius loci, um dort eine Literaturgeschichte der Meerjungfrauen zu schreiben. (...) Die nötige Muse begegnete mir in Form des Donauweibchens, dem im Wiener Stadtpark und im Palais Ferstel prächtige Brunnen geweiht sind. Wer das Donauweibchen an seiner Seite weiß, muss sich vor ihren jüngeren und älteren Schwestern nicht scheuen: der Sirene, der Melusine, der Loreley der Undine und natürlich auch der kleinen Meerjungfrau.

Wer hier derart von Wien als Hort der Meerjungfrauen schwärmt, ist der deutsche Germanist Andreas Kraß. Das Spezialgebiet des Autors ist eigentlich das Mittelalter, doch in seinem 470 Seiten starken Buch "Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe" wagt er eine Gesamtschau zum Mythos jener Damenwelt, die Flüsse, Seen und Meere bewohnt. Das reicht von Homers "Odyssee" über Ovid, Dante Alighieri, Goethe, Grillparzer, Franz Kafka, Thomas Mann bis zu Ingeborg Bachmann. Der Schluss der Studie ist Walt Disneys "Arielle, die Meerjungfrau" gewidmet.

Vielfältige Erscheinungsformen

Bei so viel Meerjungfräulichkeit mag der Leser erschrocken zurückweichen. Doch Andreas Kraß schreibt nicht nur mit gekonnter, weitgehend unakademischer Feder, sondern er weiß auch die vielfältige Thematik geschickt in einzelne Abschnitte aufzuteilen. Er geht vom Sinnbild der "Meerjungfrau" aus, betrachtet dann die einzelnen Erscheinungsformen: "Sirene", "Melusine", "Donauweibchen", "Loreley" und "Undine", um in einem letzten Schritt zur Meerjungfrau" als "Fischfrau und Sündenbock" zurückzukehren.

An manchen Stellen im Buch macht Kraß Ausflüge in die Germanistik, lobt oder tadelt Kollegen, die auch schon etwas zum Thema gesagt haben. Für Nicht-Germanisten ist das wenig interessant, doch geübte Leser können diese Passagen gekonnt umschwimmen.

Zeitlose Faszination

Den ältesten Beleg für die Figur der Meerjungfrau findet sich in Horaz' Werk "Über die Dichtkunst". Damit ist dieses seltsame Wesen, das einen Fischunterleib hat und dessen Oberkörper und Gesicht eine wunderschöne Frau ergibt, fast so alt wie unsere christliche Zeitrechnung. Das deutsche Wort "Meerweib" findet man bereits im "Nibelungenlied", also um das Jahr 1200. Interessant ist, dass die Faszination für dieses Wesen bis in die Gegenwart ungebrochen geblieben ist. Doch was hat sich an der "Meerjungfrau" verändert, was ist gleich geblieben?

Was in den verschiedenen Darstellungen durch die Literaturepochen gleich bleibt, ist die Anziehungskraft des Weiblich-Fremden: In welcher Form auch die Meerjungfrau erscheint, etwa als Melusine, die in Waldbrunnen zu Hause ist, oder als Nymphe, die Flüsse bewohnt, immer ist es die Doppelnatur, die zum Konflikt führt.

Frau als Naturwesen

Der männliche Held des Gedichts oder der Erzählung ist nicht nur von der Schönheit der Meerjungfrau geblendet, sondern sein Interesse gilt dem anderen Ort, dem die Meerjungfrau auch angehört. Damit ist zwar primär das Element des Wassers gemeint und das Unterwasserreich, das manchmal schöner, interessanter, ja, friedlicher zu sein scheint als die Oberwelt der Menschen, aber in Wirklichkeit geht es um die Frau als Naturwesen.

Durch die Christianisierung Europas haben seit dem frühen Mittelalter die heidnischen, germanischen Götter und göttlichen Naturwesen abdanken müssen. In der Figur der "Meerjungfrau" und all ihren Erscheinungsformen lebt aber etwas von ihnen weiter.

Die "Meerjungfrau" als Naturwesen bewahrt etwas vom Geheimnis der Natur, die dem Mann fremd geworden ist. Will er hinter dieses Geheimnis schauen, quasi nicht die Schönheit des Oberkörpers und des Gesichts sehen, sondern den Fischschwanz, entflieht ihm die "Meerjungfrau" für immer oder - noch schlimmer - bestraft ihn mit dem Tod. Und damit bleibt das Geheimnis der mythischen Natur bewahrt.

Sinnbild unerfüllter Liebe

Die große Verbreitung von Nixen und Nymphen in der Romantik verdankt sich dem Erfolg von eher populär-literarischen Werken. Christian August Vulpius, der Schwager Goethes, verfasste zwei Romane über die Saal-Nixe und die Ilm-Nixe. Und Karl Friedrich Hensler schrieb das Bühnenstück "Das Donauweibchen" für das Leopoldstädter Theater in Wien.

Diese populären Darstellungen wurden dann von Ludwig Tiecks Drama "Das Donauweib" und Franz Grillparzers Opern-Libretto "Melusine" literarisch erhöht. Aber erst die Darstellungen von Clemens Brentano und Heinrich Heines Loreley-Gedicht, das heute als Inbegriff des romantischen Mythos der "Meerjungfrau" gilt, verlagern die Grundthematik: Die "Meerjungfrau" als Nixe und Nymphe verliert ihr Geheimnis als Naturwesen und wird zum Sinnbild der unerfüllten Liebe, ja, zur Allegorie der romantischen Literatur selbst, die das Liebessehnen wie ein nicht abzuschließendes Werk in den Literaturhimmel emporhebt.

Männlicher Blick?

Dieses Konstrukt hat aber einen Haken: Es sind ausschließlich männliche Schriftsteller, die sich dieser Motivik hingeben und damit die "Meerjungfrau" zum Objekt ihres Begehrens machen - ohne das eigene Begehren der Nixen und Nymphen in den Blick zu bekommen.

Das gelingt dann erst Anfang der 1960er Jahre Ingeborg Bachmann in ihrer Erzählung "Undine geht". Hier wird die Position der Nymphe vom Objekt zum Subjekt verschoben, das seine Klage erhebt. Und die Anklage richtet sich eben gegen jene Männer, die nur ihrem eigenen Begehren folgen. Andreas Kraß' Schlussfolgerung lautet daher:

Das eigentliche Skandalon ist nicht, dass der Mann die Nymphe verlässt, sondern dass er sie überhaupt als Nymphe imaginiert. Bachmann macht Schluss mit der Larmoyanz der romantischen Nymphomanie, die noch weit in die Moderne hineinreicht.

Geheimnisvolle Natur

Und doch zeigt gerade die Meerjungfrauen-Studie von Andreas Kraß, dass es um mehr geht als um eine bloße Geschlechterthematik. Die "Meerjungfrau" in all ihren Erscheinungsformen repräsentiert als das andere, fremde Wesen immer die Suche nach dem Geheimnis der Natur selbst.

Die "Meerjungfrau" ist eine Art Sehnsuchtsfigur, in der die Natur mit einer mythischen Kraft auftritt, die dem technisch-naturwissenschaftlichen Geist die Stirn bietet. Freilich ist das ein Wunschdenken. Aber gerade in Zeiten ökologischer Sensibilität wird so die "Meerjungfrau" zum Sinnbild eines sich wandelnden Bewusstseins, das die Natur nicht mehr als Objekt des Begehrens, als bloßen Lieferanten von Ressourcen begreift.- Die "Meerjungfrau" ist also lebendiger denn je!

Service

Andreas Kraß, "Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe", S. Fischer Verlag

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