Das schmerzhafte Akzeptieren-Müssen

So viele Ringe im Wasser

"Ich möchte endlich einmal ausschlafen können", sagt Brigitte Schwaiger und beugt sich ein wenig über den Tisch. "Ich möchte einmal ausschlafen können, ohne dass mich einer aufweckt, mich an der Schulter anfasst und schüttelt und sagt: Sie müssen aufwachen Frau Schwaiger, ich muss Ihnen das Schlafmittel geben."

Ich blicke sie fassungslos und zugleich wohl ein wenig amüsiert an.

Schwaiger wird lauter: "Ja, das ist doch absurd, dass sie einen da oben" - mit "da oben" meint sie die psychiatrische Abteilung auf der Baumgartner Höhe in Wien - "dass sie einen da oben aufwecken, um einem die Tabletten zu verabreichen. In einem Film würden die Zuseher bei so einer Szene lachen. Aber das ist nicht zum Lachen!" Sie ist leiser geworden. " Ich möchte endlich einmal ausschlafen können, ohne diese Tabletten."

Wir haben an jenem Nachmittag über die Menschenwürde geredet, über die Menschenwürde in der Psychiatrie beziehungsweise von dem, was übrig bleibt von der Menschenwürde im Angesicht des Netzbettes. Brigitte Schwaiger dreht nach wie vor die Zigarette, die sie aus der Packung nahm, als sie sich zu mir an den Tisch setzte, ununterbrochen zwischen den Fingern.

"Das Netzbett", sagte sie, "das Netzbett ist die Endstation vor dem Sarg". Der Sarg wäre wahrscheinlich gemütlicher und im Tod läge Menschenwürde.

Ob sie wüsste, wie viele Menschen hierzulande Selbstmord begingen, frage ich sie. "Nein, nicht Selbstmord", korrigiert sie mich, "nicht Selbstmord. Ein Mord ist es doch nur dann, wenn man ein Lebewesen tötet, das leben möchte. Selbsttötung oder ihn den gewollten Tod zu nennen, erscheint mir richtiger." Ihre Stimme ist brüchig geworden. "Der Freitod ist natürlich so, als würde man einen Stein ins Wasser werfen, der dann so viele Ringe zieht. Jeder, der die Dame oder den Herren gekannt hat, erschrickt und denkt, mein Gott, was habe ich falsch gemacht? -fühlt sich also schuldig. Ja - zu spät, zu spät, zu spät. Mit mehr Größe könnte man doch auch sagen: Sie wollten wirklich sterben? Ich will es akzeptieren. Und das tut dann sehr weh, das Akzeptieren-Müssen."

Vier Menschen nehmen sich täglich das Leben in Österreich (statistisch waren es 2009 annähernd 3,5.) Und vierzig versuchen es. Täglich. Insgesamt 1.273 Menschen waren es, die im vergangenen Jahr aus dem Leben gegangen sind. Das sind doppelt so viele wie in Österreich 2009 als Verkehrstote zu beklagen waren.

"Und glauben Sie mir", sagt Brigitte Schwaiger, "glauben Sie mir, von den vierzig haben es zwanzig todernst gemeint. So ein Suizidversuch geht an einem nicht spurlos vorüber, man ist danach ein anderer Mensch. Ich habe da oben die Erfahrung gemacht, dass das meistens sehr, sehr nette Menschen sind, die einen oder mehrere Suizidversuche hinter sich haben. Die sind die angenehmsten Mitpatienten, die sind abgeklärt, die haben ja schon aufs Leben verzichtet - mindestens ein Mal. Wir sollten alle, die weg wollten, einen großen Verein gründen." Sie greift nach dem Feuerzeug und zündet sich die Zigarette an.

In ihrem letzten Buch "Fallen lassen" notierte sie: "Es ist jetzt immer öfter so, dass ich den kürzeren Weg wählen möchte, und das wäre, mich aus einem hohen Fenster zu stürzen. Der längere Weg ist, zu schreiben über mein unglückliches Leben." Brigitte Schwaiger hat die Kraft, den längeren Weg zu gehen, verlassen.