Lebenswege in Nordkorea
Die Kinogänger von Chongjin
Atomwaffen, kommunistisches Regime, Kim Jong Il und US-Sanktionen - das berichten die Medien über Nordkorea. Barbara Demick versucht Licht ins Finstere zu bringen und erzählt in ihrem Buch "Die Kinogänger von Chongjin" die Geschichten von sechs Geflüchteten.
8. April 2017, 21:58
Menschliche Schicksale
Drei Soldaten der koreanischen Volksarmee haben dreißig amerikanische Soldaten getötet. Wie viele amerikanische Soldaten sind von jedem einzelnen koreanischen umgebracht worden, wenn sie alle dieselbe Zahl feindlicher Soldaten töteten? Mit solchen Beispielen rechnen Kinder in Nordkorea im Mathematik-Unterricht. In der Musikstunde singen sie Lieder mit dem Titel "Erschießt die Yankee-Schweinehunde" und "Uns fehlt es an nichts in der Welt".
Barbara Demick erzählt in "Die Kinogänger von Chongjin" die Schicksale einer parteitreuen Mutter und ihrer rebellischen Tochter, einer jungen, hilflosen Ärztin und eines obdachlosen Jungen. Auch die Liebesgeschichte zweier Jugendlicher erzählt sie: Mi-ran und Jun-sang, die sich als Teenager im Kino kennenlernen, und sich jahrelang immer nur heimlich am Abend, im Dunkeln treffen. Körperkontakt, Nähe und Sex sind verpönt.
In Nordkorea gibt es keine "Liebeshotels", zwanglose Intimitäten zwischen den Geschlechtern werden nicht gebilligt. Dennoch versuchte ich, Mi-ran behutsam zu entlocken, wie weit ihre Beziehung gegangen war. Sie lachte: "Es dauerte drei Jahre, bis wir Händchen hielten, und noch einmal sechs Jahre bis wir uns den ersten Kuss gaben. An mehr hätte ich nicht im Traum gedacht. Als ich Nordkorea verließ, war ich 26 Jahre alt und Lehrerin, aber ich wusste nicht, wie Babys zustande kommen.
Anhand der Erlebnisse der sechs Nordkoreaner und ihrer Familien lässt Demick immer wieder geschichtliches Know-how und Erklärungen über das Land, die Sprache und den Koreakrieg einfließen. Aber auch über Kim Il Sung, seine sogenannte Juche-Ideologie, seine Liebe zum Kino und zu Propagandafilmen, beispielsweise mit dem Titel "Der Weg zum Glück besteht in Selbstaufopferung und Unterdrückung des Einzelnen zum Wohle des Kollektivs".
Der Tag, an dem Kim Il Sung starb
Demick erzählt auch vom 8. Juli 1994 - dem Tag, an dem der Große Marshall, wie Kim Il Sung genannt wurde, gestorben ist. Ein Tag, von dem jeder Nordkoreaner noch immer weiß, was er gerade getan hat, als er von der Todesmeldung erfuhr. Demick erzählt, wie die Leute schreiend und weinend auf die Straße vor die Statuen von Kim Il Sung gelaufen sind.
Sie sprangen auf und ab, schlugen sich an den Kopf, fielen mit theatralischen Gesten in Ohnmacht, rissen sich die Kleider vom Leib und reckten in ohnmächtiger Wut die Fäuste in die Luft. (...) Die Trauernden wurden noch angestachelt durch das Fernsehen, das stundenlang über die klagenden Menschen berichtete und erwachsene Männer zeigte, denen Tränen über die Wangen liefen, erwachsene Männer, die den Kopf an Bäume schlugen, Matrosen, die den Kopf an die Masten ihrer Schiffe schlugen und Piloten, die im Cockpit weinten. Unterbrochen wurden solche Szenen durch Meldungen über heftige Gewitter und strömenden Regen. Es sollte alles nach Weltuntergang aussehen.
Die Hysterie, die Demick beschreibt, die Betroffenheit und die öffentlichen Trauerszenen wirken bizarr und beinahe pervers. Auch Mi-ran hegt leichte Skepsis, sie muss mit ihren Schülern während der Trauerzeit täglich zur Statue marschieren.
Mit der Zeit fürchtete sie sich davor, nicht nur, weil es eine Pflicht war, sondern auch wegen der Verantwortung, dass die zarten Kinder nicht niedergetrampelt wurden oder sich in eine Hysterie hineinsteigerten. In ihrer Klasse war ein fünfjähriges Mädchen, dass so laut weinte und so demonstrativ Trauer zeigte, dass Mi-ran fürchtete, es werde zusammenbrechen. Aber dann bemerkte sie, dass das Kind in die Hand spuckte und sein Gesicht mit der Spucke befeuchtete, es hatte gar keine Tränen. "Meine Mutter hat gesagt, wenn ich nicht weine, bin ich ein schlechter Mensch", erklärte ihr die Kleine.
Hunger, Armut, Not
Als hätte mit dem Tod des alten Mannes auch das Land sein Leben ausgehaucht bekommen - so beschreibt Demick die Situation in den 1990er Jahren, in denen nach Schätzungen knapp zwei Millionen Menschen - also zehn Prozent der gesamten Bevölkerung - sterben, weil es nicht genug zu essen gibt. Schilder werben in der Hungersnot für "zwei Mahlzeiten am Tag", und Dokumentationen berichten über einen Mann, dessen Magen geplatzt ist, weil er angeblich zu viel Reis gegessen hat. Wer also nicht hungert, ist kein Patriot.
Es ist beklemmend, wenn die Kinderärztin Kim und Mi-ran parallel erzählen, wie sie mitansehen müssen, wie Kinder im Spital und in der Schule einfach verhungern, und der Anblick von Leichen auf der Straße ihnen gleichgültig wird.
Not macht erfinderisch - oder in diesem Fall systemkritisch. Auch bei der regimetreuen Frau Song regen sich langsam Zweifel an der heilen Partei-Welt, als Mann und Sohn an Hunger sterben. Essen und Geld gibt es vom Staat keines mehr, skurrilerweise zahlen die Arbeitgeber aber die Särge für ihre Familie.
Bedrückende wahre Geschichten
Kim Il Sungs fluoreszierender Mantel, tugendhafte Frauen und untadelig gekehrte Straßen - In Barbara Demicks Buch tummeln sich Beschreibungen, Adjektive und Partizipien, sie schildert sehr bildhaft und detailliert. Demick schreibt leicht und locker über Bedrückendes, das Buch erstaunt und ruft Beklemmungen hervor, immer wieder muss man sich vor Augen halten, dass das kein Roman und keine Fiktion ist, die man hier liest, sondern dass es sich dabei um wahre Geschichten handelt.
Nordkorea fordert Parodien geradezu heraus. Wir lachen über die übertriebene Propaganda und Staatsführung und die Leichtgläubigkeit seiner Bewohner. Doch man muss sich vor Augen halten, dass die Indoktrination schon im Kindesalter begann, während der vierzehn Stunden, die die Jüngsten tagtäglich im Kinderhort verbrachten; dass in den folgenden fünfzig Jahren jedes Lied, jeder Film, jeder Zeitungsartikel und jedes Plakat nur den Zweck hatte, Kim Il Sung zu vergöttern.
Schwere Integration
Während der Hungersnot gibt es für viele nur noch einen letzten Ausweg: die Flucht. In Nacht und Nebel-Aktionen flüchten viele nach China, um dann nach Südkorea zu gelangen. Unter dem 38. Breitegrad, der Nordkorea von Südkorea trennt, erkennen die sechs Porträtierten schmerzhaft, dass man die Welt auch in einem anderen Licht als in Nordkorea sehen kann. Die Integration in Südkorea fällt schwerer als erwartet, trotz so genannter Übergangs- und Orientierungslager für die Neuankömmlinge.
Als ich Dr. Kim 2004 kennenlernte, frage ich sie, ob sie bedaure, nach Südkorea gekommen zu sein. "Ich hätte es nicht getan, wenn ich gewusst hätte, was ich jetzt weiß", antwortete sie - die einzige meiner Gesprächspartner aus dem Norden, die das offen zugab, obwohl ich vermute, dass es den anderen ähnlich erging.
Jeder Mausklick eine neue Welt
Auch Jun-Sang erfährt den Kultur-Schock am eigenen Leib. Ihn trifft beinahe der Schlag, als er in Südkorea zum ersten Mal ausländische Bücher in die Hände bekommt und bemerkt, dass nicht nur ein Intranet innerhalb von Nordkorea gibt, sondern auch ein World Wide Web außerhalb existiert.
Jun-sangs Lieblingsbuch war eine Übersetzung von 1984. Jun-sang wunderte sich, wie George Orwell die nordkoreanische Variante des Totalitarismus so genau hatte beschreiben können. (...) Mit jedem Mausklick öffnete sich die Welt mehr für ihn. Zum ersten Mal hatte er das sichere Gefühl, dass es am Ende doch richtig gewesen war, nach China zu fliehen. Er tippte in die südkoreanische Suchmaschine die Worte "Menschenrechte in Nordkorea" und "nordkoreanische Flüchtlinge".
Im Epilog analysiert Demick die aktuelle Lage in Nordkorea und die minimale Hoffnung, dass sich etwas verändern wird. Sie beschreibt die Schwierigkeit, über Nordkorea zu berichten, weil das Land alles tut, um nach außen hin nur Inszeniertes zu zeigen, bevor es am Abend finster wird und das Land ohne Lichtblicke und ohne Straßenbeleuchtung von Satellitenfotos fast gänzlich verschwindet.
Service
Barbara Demick, "Die Kinogänger von Chongjin. Eine nordkoreanische Liebesgeschichte", Droemer Verlag, aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel und Maria Zybak.
Verlagsgruppe Droemer Knaur