Historische Beispiele des Nicht-Erinnerns

Das Gebot zu vergessen

Christian Meier plädiert für das Vergessen, denn "das Schlimme wiederholt sich manchmal ganz besonders deshalb, weil sich die Menschen daran erinnern." Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit handelt sein Buch "Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns."

Dogma der Erinnerung

"Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen", forderte einst der deutsche Bundespräsident Roman Herzog - und erklärte den 27. Januar zum "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus". "Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren", behauptete (ebenfalls im Hinblick auf die Nazizeit) sein Vorgänger im Amt, Richard von Weizsäcker.

Erinnerung, so scheint es, muss sein, nicht nur in Deutschland und nicht nur in den Sonntagsreden der Staatsoberhäupter. Erinnerung gilt als Gebot einer Politik, die um Friede und Versöhnung bemüht ist. Sind Gedenken und Erinnern also ein Schutz vor der Wiederkehr des Unheilvollen, Nicht-Erinnern und Vergessen aber Indizien für Ignoranz, Geschichtsblindheit und politischen Leichtsinn? Nein, sagt der Historiker Christian Meier, und weiß gute Gründe und viele Beispiele gegen das Dogma der Erinnerung.

"Erinnerung ist im Ganzen kostenlos", so Meier. "Es kostet ein bisschen Geld für ein Mahnmal oder Grundstück - mehr kostet es nicht. Andere Dinge in der Politik sind sehr viel kostspieliger. Dann macht man es eben. Es hat sich auch so eingespielt. Es gibt eine Reihe von Worthülsen, die ununterbrochen gebraucht werden, und dazu gehört unter anderem auch dies, dass das Geheimnis der Erlösung Erinnerung ist. Und dann gibt es ja viele Motive. Dass man die Leute runterdrücken muss, was dazu dient, um mit dieser Erinnerung auch Ziele zu erreichen, die gar nicht unbedingt im Sinne der Erinnerung sind."

Erinnern oder Vergessen?

"Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit" nennt Christian Meier sein neues, die aktuelle Erinnerungsversessenheit kritisch hinterfragendes Buch, das zwei, bereits vor einigen Jahren erstmals veröffentlichte, aber damals wenig beachtete Texte neu bearbeitet zusammenbringt und zur Diskussion stellt.

"Es gibt eine unendliche Vielfalt von Fällen", sagt Meier, "und ich war selber überrascht, was man alles gefunden hat an Möglichkeiten - sei es sich zu erinnern, sei es sich das Vergessen vorzunehmen. Ganz funktioniert ja weder das eine noch das andere. Aber es gibt eben doch viele Möglichkeiten innerhalb dieser Alternative."

Historische Beispiele

Dass Erinnerung fatal und Nicht-Erinnern probat sein kann, dass Vergessen - das Vergessen von blutigen Konflikten wie Aufständen, Kriegen oder Bürgerkriegen - nicht als Fehlleistung, sondern als politisches Kalkül zu betrachten ist: Das belegt Meier mit einer Fülle von historischen Beispielen.

"Schweig, rühr nicht das Schlimme auf!" heißt es in Aristophanes' "Lysistrate" aus dem Jahre 411 vor Christus. Ein Diktum, das nicht alle beherzigten. Aristophanes' Kollege Phrynichos jedenfalls hat die Zerstörung von Milet durch die Perser zum Gegenstand einer Tragödie gemacht - und damit die griechischen Zuschauer zu Tränen gerührt. Der Dichter wurde daraufhin zu einer hohen Geldstrafe verdonnert, die Wiederaufführung seines Stücks verboten. Sein Vergehen: Er habe an "häusliches Unheil" erinnert.

Man mag darin einen frühen Fall von Zensur sehen - fest steht, dass die politisch Verantwortlichen angesichts der persischen Übermacht zu Besonnenheit gemahnen und die Gefahr einer emotionalen Aufwiegelung um jeden Preis vermeiden wollten.

Beschlüsse des Nicht-Erinnerns

"Seit dem letzten Viertel des 5. Jahrhunderts", schreibt Christian Meier (und meint damit das 5. Jahrhundert vor Christus), "sind Beschlüsse, 'nicht an Schlimmes zu erinnern', greifbar, und zwar fast gleichzeitig in Verträgen zwischen Gemeinwesen und in Abmachungen zwischen verfeindeten Gruppen innerhalb von Bürgerschaften."

"Das älteste Beispiel und das beste Beispiel zugleich ist eine Amnestie, die man in Athen beschlossen hat", sagt Meier, "404, nach dem großen Peloponnesischen Krieg, der 27 Jahre mit unendlich vielen Opfern gedauert hatte. Dann ist in Athen eine tyrannis begründet worden und diese tyrannis hat ihrerseits quasi bürgerkriegsartig in Athen wieder Opfer gefordert, und zwar prozentual zur Gesamtzahl der Bürgerschaft mehr Opfer als in der Französischen Revolution - die haben wirklich gewütet. Und dann kehren die Demokraten, die zum Teil geflohen waren, wieder zurück nach Athen, es gelingt ihnen, die Stadt wieder in Besitz zu bekommen und sie müssen mit einem breiteren Kreis von Leuten, die in diesem Regime mitgemacht haben, auskommen. Und bei der Gelegenheit wird beschlossen, 'wir wollen uns an das Schlimme nicht erinnern'. Und das ist im Ganzen durchgehalten worden, mit Ausnahmen. Man hat von vornherein gesagt, die eigentlich Schuldigen, das waren insgesamt rund 30 Leute, die dürfen verurteilt werden, aber nicht alle anderen. Und auf diese Weise hat sich die athenische Gesellschaft wieder zusammengefunden mit der Zeit."

Immer wieder, sagt Christian Meier, wurde in der Vergangenheit "beschlossen, vereinbart, eingeschärft, dass Vergessen sein soll, Vergessen von vielerlei Unrecht, Grausamkeit, Schlimmem aller Art". So etwa von Cicero, der in einer Ansprache im römischen Senat zwei Tage nach Caesars Ermordung verlangte, alle Erinnerung an die Zwieträchtigkeiten durch ewiges Vergessen zu tilgen. Auch Winston Churchill hat in seiner Zürcher Rede vom September 1946 mit Bezug auf die Tragödie des Zweiten Weltkriegs einen "blessed act of oblivion" eingeforderte, einen segensreichen Akt des Vergessens.

Zusammenleben ermöglichen

"Vergessen heißt 'nicht zum Gegenstand von Anklagen machen' - also de facto vergessen, weil es nicht bestraft wird", sagt Meier. "Die Vorteile sind, dass man zunächst mal in sehr stark zerstrittenen oder unter sich verfeindeten Gesellschaften überhaupt Zusammenleben wieder ermöglicht. Das passiert natürlich auch zwischen Staaten, die in Friedensverträgen immer wieder das Vergessen beschließen."

"Es gibt auch den Fall nach der Französischen Revolution," so Meier weiter, "wo der zurückgekehrte König sogar diejenigen, die für die Hinrichtung seines Vorgängers gestimmt haben, begnadigt und sagt: 'Und es soll so aus dem Gedächtnis der Leute verbannt werden, wie ich wollte, dass man es aus der Wirklichkeit verbannen könnte'. Also es gibt viele Situationen, in denen man wirklich gemeinsam etwas zuwege bringen muss. Da ist das Vergessen oder zumindest starke Beiseite-Schieben ausgesprochen dienlich."

Vergessen als Leitmotiv aller Völker

Ob in Antike oder Neuzeit, bei den vorislamischen Arabern oder den Ureinwohner Amerikas, die vom "Begraben des Kriegsbeils" sprachen - der Wunsch, Vergessen zu stiften, ist ein Leitmotiv in der Geschichte und offenbar überall verankert. Mit einer Ausnahme: die Juden. Sie sind das Gedächtnisvolk par excellence. "To be a jew is to remember" hat Elie Wiesel einmal gesagt.

Alle anderen Völker und Nationen aber haben immer wieder die Forderung des Erinnerns, das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, die Ansprüche der Opfer zurückgestellt zugunsten eines politischen Pragmatismus, dem es darum ging, den Frieden wiederherzustellen und eine Zukunftsperspektive zu eröffnen - und nicht im ewigen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, von Verbrechen und Verfolgung, von Schuld und Sühne gefangen zu bleiben. Dies war auch das Ziel der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika, die, 1996 etabliert, die Verbrechen der Apartheid zügig aufklären wollte und jedem, der aus politischen Gründen Straftaten begangen hatte, das Recht einräumte, seinen Fall der Kommission vorzutragen.

"Und wenn er das getan hat", so Meier, "dann ist er damit von jeder Verfolgung - sowohl im strafrechtlichen wie im privatrechtlichen Sinn - frei. Es ist ein Mittel, eine Versöhnung herzustellen zwischen zwei Teilen, die arg verfeindet waren, schwarz und weiß, von denen man aber wusste, beide waren nötig. Und da hat man eben diese Zwischenphase eingeschaltet - zwei Jahre wird daran erinnert, aber nicht länger. Dann muss Schluss sein."

Kein Verdrängen bei Genozid

Wie der "öffentliche Umgang mit schlimmer Vergangenheit" auszusehen hat, dafür gibt es, so Meier, kein Patentrezept. Ob Erinnerung dem Vergessen, ob Vergessen der Erinnerung vorzuziehen sei, das lässt sich nicht ein für allemal beantworten. Es bleibt von Fall zu Fall verschieden. "Die uralte Erfahrung, wonach man (…) besser vergisst und verdrängt als tätige Erinnerung walten zu lassen, ist noch keineswegs überholt", glaubt jedenfalls der Autor. In einem Fall freilich verbietet sich das Vergessen: beim Genozid.

"Wenn man derartige Verbrechen angerichtet hat, dann kann man nicht einfach zur Tagesordnung gehen, obwohl das über Jahrzehnte so gewesen ist", sagt Meier. "Aber auf die Dauer eben nicht. Die Frage ist, wie weit es wirklich richtig ist und zielführend, das in dem Ausmaße und vor allem mit den Ritualen zu betreiben, wie das geschieht."

Verhindern einer Wiederholung?

Christian Meier ist ein Mann der schlagenden Beispiele, der sachlichen Kommentare - und vielleicht auch: der unbequemen Wahrheiten. Nimmt er im zweiten, kürzeren Text seines Buches mit dem Titel "Mentalitätsprobleme der deutschen Vereinigung" die "Mauer in den Köpfen zwischen West und Ost" unter die Lupe, das unterschiedliche, von Machtverschiebungen und Nostalgie geprägte Erinnern an zwei deutsche Staaten, so geht es in dem hier ausführlicher besprochenen Text um die Funktion von Erinnern, Verdrängen und Vergessen im Lauf der Weltgeschichte, ihre politische Instrumentalisierung und Tabuisierung.

Meier weiß, der Erinnerungseifer eines Herzog oder Weizsäcker war der besonderen deutschen Geschichte geschuldet, der Katastrophe des 20. Jahrhunderts, und weder bloßes Lippenbekenntnis noch zur Schau gestelltes Gutmenschentum. Er hat dem Ansehen Deutschlands und der Deutschen genutzt. Fragwürdig aber ist eine verordnete "Erinnerungskultur", die nach immer mehr Gedenkstätten und Mahnmalen verlangt. Fragwürdig ist auch die eigentliche Intention: dass die Erinnerung des "Schlimmen" dessen Wiederholung verhindert.

"Ich kenne kein einziges Beispiel", meint Meier, "wo Erinnerung - es geht ja um Erinnerung an Verbrechen, die man selber begangen hat, vielleicht auch, die man erfahren hat - in irgendeiner Weise einen Weg eröffnet hat, dass es sich nicht wiederholt. Im Zweifelsfalle ist es anders."

Politische Instrumentalisierung

"Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will", schrieb der Schriftsteller Cees Nooteboom. Das mag für das individuelle Erinnern stimmen, nicht aber für das "kollektive". Erinnerung und Vergessen sind (und waren) Mittel im politischen Tagesgeschäft, wie Christian Meier nachdrücklich zeigt, und "legten" sich dort hin, wo die politische Führung es wollte.

Auch wenn der Autor das "oblivio" hier gewissermaßen "rehabilitiert", so ist auch sein Geschäft letztlich das der Vergegenwärtigung: Der Historiker erinnert an das "Gebot zu vergessen", in einem kleinen, klugen, äußerst lesenswerten Buch.

Service

Christian Meier, "Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit.", Siedler Verlag

Siedler Verlag