Roman von Ornela Vorpsi

Die Hand, die man nicht beißt

Ornela Vorpsis erster Roman "Das ewige Leben der Albaner" war ein schonungsloser Blick zurück auf das Albanien unter dem kommunistischen Diktator Enver Hoxha. Im neuen Roman "Die Hand, die man nicht beißt" kommt Albanien über einen Umweg in den Blick - gebrochen durch Erfahrungen in Sarajevo.

Die Erzählerin besucht in Sarajevo einen alten Freund, dem es nicht gut geht; und das hat einen Grund:

Mirsad ist trübselig, weil der Westen die Wahrheit von unsereiner aus dem Osten - aus dem ehemaligen Osten - nicht begreift. "Weil wir Wahrheiten haben, die von den ihren grundverschieden sind", erklärt er mir am Telefon wieder und wieder.

Der ehemalige Osten: In den Ländern, die mittlerweile der EU angehören, verschwimmen die Unterschiede der Biografien zunehmend oder werden unter den Teppich gekehrt, aber in Sarajevo ist noch Ex-Osten, da tritt die Verstörung offen zutage; und in Albanien erst recht.

Die Dinge von außen betrachten

Um es gleich vorweg zu sagen: Der Besuch in Sarajevo geht schief, Mirsad ist nicht zu helfen, er verschwindet und hinterlässt nur seine Hunde, die die Polizei erschießen muss, weil sie im Verlies der verlassenen Wohnung vor Durst und Hunger halb wahnsinnig geworden sind.

Aber der Besuch geht auch noch auf einer anderen Ebene schief: Die in Paris lebende Erzählerin kann sich nicht mehr in Sarajevo einleben. Es bleiben Schranken von beiden Seiten: Für die anderen ist sie die Reiche aus dem Westen, die, die es gut hat und die man nach Strich und Faden ausnutzen oder betrügen darf. Und die daher von ihrem Leben nie erzählen kann. Sie ist inzwischen "eine richtige Ausländerin" geworden und dazu verdammt, "die Dinge von außen zu betrachten". Und sie weiß auch: "Ich überlebe nur mit und durch den Abstand". Als Albanerin hat sie es in Sarajevo doppelt schwer.

Sarajevo ist nicht Albanien, doch ich merke, dass ich bezahle, damit sie mich nicht wie eine aus dem Westen ansehen. Wenn ich erzähle, dass ich in Paris wohne, wirft Paris alles über den Haufen, es entlockt ihnen einen Seufzer der Bewunderung, ein schmerzliches "Ach so!", das mir sagt, es ist aus und vorbei, ich bin schuldig! Es geht mir zu gut.

Verräterische Füße

Eine der großen Stärken dieses Romans ist es, wie die unterschiedlichen Lebenswelten festgemacht werden an körperlichen Details. Am markantesten ist das, wenn Majlinda einen Holländer heiratet, weil sie seine Füße anbetet.

Diese Füße sind glatt, weich, etwas, was an weiße Butter erinnert. Majlinda hat diese Vollkommenheit nicht mehr. Ihre Füße sind ruiniert von schlechten Schuhen, von schlechten Straßen und vor allem von schlechten Gedanken. Sein Fuß ruht stets auf weichen Schuhsohlen und sauberen Straßen, seine Gedanken waren nie so verheerend.

Doch die Mutter ihres Mannes lehnt Majlinda ab, weil ihr die Vergangenheit eines harten Lebens anhaftet.

Vincents Mutter hatte, ohne je ihre Füße gesehen zu haben, den Verschleiß gespürt, den das Leben ihr aufgezwungen hatte.

Spannender Balkan

Die Bilder unterschiedlicher Lebenswelten kreisen immer wieder um ein Wort: Balkan. "Balkanblicke" rücken ins Bild, und vom Geruch nach Füßen vom Balkan ist die Rede, oder ganz generell von einem "Balkansyndrom".

"Der Balkan ist spannend", heißt es schon auf einer der ersten Seiten, und das Buch löst diese Behauptung durchaus ein - zum Glück erliegt es aber nicht der Versuchung, etwas Balkan-Thrillerartiges zu bieten, was das einfachste wäre, sondern es macht den Balkan spannend durch kleine Alltagsfragmente.

Das Spannendste aber ist die Figur der Erzählerin selbst: Es treibt sie weg aus diesem Balkan, sie muss unter allen Umständen früher als geplant abreisen. Aber zugleich trägt sie den Balkan ihrer Kindheit immer in sich. Und will ihn mitnehmen in Form einer Speise.

Ich gehe Börek kaufen. ich will ihn mit nach Hause nehmen, nach Paris. Diese Speise, die mich meine ganze Kindheit über ernährt hat, esse ich immer noch gern. Ich kaue, und die Erinnerungen verschlingen mich (...) Ich haben meinen Mund vollgestopft, habe die Augen geschlossen und spüre die Schritte meiner Großmutter hinter mir, den Duft der reifen Kakipflaumen, das starke Licht der Sonne von Tiranas, das mir durch die Lider dringt, meine kleine Freundin, die mich ruft.

Und noch auf der letzten Seite des Romans ist sie überzeugt:

Wenn meine westlichen Freunde erst den Blätterteig vom Balkan gegessen haben, werden sie von einer Spiritualität durchdrungen sein, die sie nicht kennen.

Kein Leichtgewicht

Aber das Wort "Balkan" genügt nicht, um die Herkunft der Ich-Erzählerin von Ornela Vorpsis Roman zu beschreiben. Sie ist in der ganzen europäischen Kunst und Literatur zu Hause. Und liebt darin, wie sie schreibt, besonders jene, "die nicht maßhalten konnten und sich zu sehr exponierten: Majakowski, Jessenin, Sacher-Masoch, Van Gogh, Robert Walser, Simone Weil usw." Sie haben ihren Blick geschärft und ihrem Erzählen die mittleren Temperaturen ausgetrieben oder die Harmlosigkeit einer Exotik, die man sich leicht vom Leib halten könnte.

So ist Ornela Vorpsi abermals ein schmaler, hochkonzentrierter Roman gelungen, der leicht zu lesen, aber kein Leichtgewicht ist, den man nicht nur gelesen haben muss, um das heutige Europa zu verstehen, sondern der vor allem eines ist: aus präzisen Sätzen geflochtene Prosa.

Service

Ornela Vorpsi, "Die Hand, die man nicht beißt", aus dem Italienischen übersetzt von Karin Krieger, Zsolnay Verlag

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