Von Ohrwürmern und anderem Lästigem
Die Last im Gehirne
Geht es Ihnen auch manchmal so? Da lebt, arbeitet, schuftet man ganz normal, wie sich das tagtäglich so gehört, und dann taucht wie aus dem Nichts ein Gedankensplitter auf, der sich einfach nicht vertreiben lässt und stört, stört, stört!
8. April 2017, 21:58
Mit Ohrwürmern, oder wie man sie auch nennen könnte: nicht abschüttelbaren Melodiefragmenten, die sich im Ohr-Gedächtnis festfressen und den ganzen Tag nicht weichen wollen, kenne ich mich aus. Für, oder besser gesagt, gegen Ohrwürmer habe ich mir eine Strategie zurecht gelegt, die fast immer funktioniert. Die folgt dem Prinzip "Gleiches mit Gleichem bekämpfen" und ist an sich sehr einfach. "Wenn Du Deinen Ohrwurm nicht liebst, dann ersetze ihn einfach durch einen, den Du liebst." Sobald ich also zuhause lautstark anfange, die Marseillaise zu singen, dann weiß mein Mann, der arme geplagte, was los ist. Die ersten paar Mal reagierte er noch verblüfft. Und weil ich für Offenheit in einer Beziehung bin, erklärte ich ihm, dass mich ein Ohrwurm plage und ich ihn auf diese Weise vertreiben müsse. Die Frage, welcher Ohrwurm, wagt er nicht mehr zu stellen.
Ich singe auch sonst gerne die Marseillaise. Sie gefällt mir einfach. Und außerdem erinnert sie mich an meine demokratischen Grundsätze. Manchmal jedenfalls. Und sie hat eine gute Länge. Wenn ich alle drei Strophen, die ich fast ganz auswendig kann, mit einigen Lalalas als Ergänzungstext geschmettert habe, dann ist die Schokolade im Wasserbad geschmolzen und kann zu unserem Lieblingskuchen verarbeitet werden. Und deshalb lässt mein armer Schatz mich singen, diesen speziellen Kuchen mag er nämlich besonders gerne.
Wie Sie sehen: Das mit den musikalischen Quälgeistern meines Gehirnes habe ich im Griff. Aber unlängst wurde ich von einem anderen Flash überfallen. Wie einer von diesen Computerviren, die immer wieder Bilder auf den Screen schicken, tauchte zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten der Satz "So zärtlich war Suleiken" auf. Mir war natürlich klar, dass es sich um einen Buchtitel von Siegfried Lenz handelte. Ich bin ja schließlich gebildet! Nur hatte mich dieses spezielle Buch nie interessiert. Eine Liebesgeschichte, dachte ich. Interessiert mich nicht.
Aber dann tauchte dieser Titel den ganzen Tag immer wieder auf. Beim Arbeiten. Beim Einkaufen. Beim Tanken. Als ich mit meiner Freundin einen Kaffee trank. Und beim Salat waschen fiel mir wieder ein, wo ich Suleiken getroffen habe: auf einer Landkarte. Die hatte ich erfreulicherweise noch griffbereit. Sie gehört zu einem Reiseführer durch Masuren, mit dem ich mich auf die Ö1 Kulturreise Polen vorbereitet hatte. Suleiken, wo ist das gleich noch mal, wo habe ich das gesehen? Mit Hilfe meiner Lupe - nicht dass die Schrift auf der Karte so klein wäre, aber ich kann dann besser "Planquadrat" spielen - konnte ich den Quell meines Gedankenvirusses dingfest machen. "Suleyken" stand da, durch einen dunkelgrünen Waldstreifen etwas schwer zu lesen. Direkt darunter der polnische Name "Sulejki".
Aber nicht dass Sie jetzt glauben, dass die Flasherei zu Ende gewesen wäre. Ganz im Gegenteil. Jetzt wollte ich es nämlich wissen. Ist "So zärtlich war Suleiken" nun eine Liebesgeschichte - könnt ja sein!!! - oder nicht? Meinen Mann, einen Siegfried-Lenz-Kenner par excellence, habe ich diese Frage natürlich nicht gestellt. Ganz beiläufig wollte ich wissen, ob er denn dieses Buch besitze. Mit dem Brustton der Überzeugung kam: "Selbstverständlich! Das müsste da und da stehen!"
Da und da. Da stand es aber nicht. Mist! Wo könnte es sein? "Hast du es verborgt?" störte ich ihn noch mal. Grimmige Antwort: "Ich verborge nie Bücher!!" Okay, dann muss es ja irgendwo sein. Aber was soll ich Ihnen sagen: In meinem Bibliotheksverzeichnis war es nicht eingetragen, natürlich nicht, gehörte ja ihm. Er hat kein Bibliotheksverzeichnis. Ich ging mit der Taschenlampe seine Buchregale entlang. Sogar mit Brille auf habe ich das Buch nicht gefunden. Okay, lass es, dachte ich mir, und wandte mich Wichtigerem zu. Und vergaß das Buch.
Das heißt, ich wollte es vergessen! Denn wie ein Ohrwurm wollte es nicht aus meinem Hirn verschwinden. Immer wieder dieser Flash "So zärtlich war Suleyken (denn so schreibt man es richtig) - wo ist dieses ver... Buch!" Beim Einkaufen. Beim Staubsaugen. Beim Arbeiten. Beim Tanken. Als ich mit meiner Freundin telefonierte. Und beim Kartoffel schälen. Okay, ich kauf mir's.
Aber meine kleine Melker Buchhandlung hatte es nicht lagernd. Und da ich, wenn ich ein Buch haben will, es sofort haben und keine paar Tage Bestellzeit warten will, sagte ich "Nein, nicht bestellen." Auf dem Weg zu meinem Auto fiel mein Blick auf die kleine Melker Stadtbibliothek, die offene Türe und die freundliche Bücherhüterin, die gerade mit einer Leserin plauderte. Vorsichtig, um das Buch (und meine Hoffnung) nicht zu verscheuchen, näherte ich mich und tatsächlich! "Das haben wir!" Sie ging zielbewusst zu dem Regal, das ihr das Bibliotheksverzeichnis wies. Fehlanzeige. Es stand nicht da!!!
Das war's. Seufzend bedankte ich mich, ging zu meinem fahrbaren Untersatz und wollte schon nach Hause, als sie mir aufgeregt mit einem Buch in der Hand winkte. Was soll ich Ihnen sagen: Ich habe mich sofort ins nächste, beste (!) Kaffeehaus von Melk gesetzt und das Buch - mein erstes im Großdruck! - verschlungen. 20 Dorfgeschichten. Ich mag sie.
Der Flash war besiegt! Mein Mann knurrte hungrig, als ich eine gute Stunde zu spät mit dem Kochen begann. Aber: Mein Flash war besiegt. Alles in Ordnung. Bis zum nächsten Flash!
Service
Siegfried Lenz, "So zärtlich war Suleyken", Edition Richarz, Verlag CW Niemeyer
Jerzy Szynkowski, "Masuren. Land der dunklen Wälder und kristall'nen Seen", Reiseführer, Verlag ALGRAF Bischofsburg/Biskupiec