Humanitäre Hilfe und ihre Widersprüche
Die Mitleidsindustrie
Das Geschäft mit dem Helfen ist für Linda Polman ein eigener Wirtschaftszweig. In "Mitleidsindustrie" schildert sie, wie sich die zur Neutralität verpflichtete Hilfsorganisationen zu Komplizen von politischen Gruppierungen, Armeen und Kriegsverbrechern machen.
8. April 2017, 21:58
Mega-Event gegen Hunger
Anfang Dezember 1984 war das ein weltweiter Nummer-Eins-Hit: "Do They Know It's Christmas" von Band Aid. Der Musiker Bob Geldof versammelte damals alles, was in der Popszene Rang und Namen hatte, um diese Benefizplatte für die Opfer der Hungersnot in Äthiopien zu produzieren.
Der kommerzielle Erfolg des Projekts war so groß, dass sich nicht nur in anderen Ländern, unter anderem in Österreich, All-Star-Bands zum caritativen Singen formierten, es folgte am 12. Juli 1985 Live Aid, das bis dahin größte Rockkonzert der Geschichte, das zeitgleich in London und New York über die Bühne ging.
Was Bob Geldof da auf die Beine stellte, übertraf reichweitenmäßig alles, was je an PR für humanitäre Hilfe für die Dritte Welt geleistet wurde. Spenden, vor allem für Afrika, wurde zur Pflicht für jeden Bürger der westlichen Welt. Ganz zur Freude der Regierungen übrigens, die sich für ihre schmalen Entwicklungshilfebudgets nicht mehr rechtfertigen mussten. Nun war ja jeder Bürger aufgerufen, seinen Beitrag direkt und nach eigenem Ermessen zu leisten.
Privatisierung von Hilfsleistungen
Wo viel Geld fließt, bedarf es der Kanalisierung - das heißt, die Mittel sollen auch dort ankommen, wo sie gebraucht werden, und es muss jemand darüber entscheiden, welche Investitionen damit getätigt werden.
Dem Geist der 1980er Jahre entsprach die weitgehende Privatisierung von Hilfsleistungen, national und international. Neben bewährten und erfahrenen Organisationen wie dem Roten Kreuz begann nun eine unübersehbare Zahl an Organisationen, so genannten NGOs, also Non Governmental Organizations, um Aufmerksamkeit und Marktanteile zu ringen.
Das United Nations Development Programme schätzt, dass mehr als 37.000 internationale NGOs existieren.
Professionalisierung und Kooperation
Jährlich 120 Milliarden Dollar staatlicher Entwicklungshilfegelder und dazu noch viele Milliarden aus privaten Spenden wollen abgeholt werden. Die Helfer begreifen sich als Unternehmer, mit Geschäftsführung, PR-Abteilung und Absatzmärkten.
"Mitleidsindustrie" nennt die Niederländische Journalistin Linda Polman diesen Wirtschaftszweig, der, und das ist die zentrale These ihres Buches, wissentlich Allianzen mit jenen Machthabern, Warlords und Milizen eingeht, die die Not, der man etwas entgegensetzen möchte, zu verantworten haben. Um ihr eigenes Überleben zu sichern, machen sich die zur Neutralität verpflichteten Hilfsorganisationen zu Komplizen von politischen Gruppierungen, Armeen und Kriegsverbrechern.
Helfer und Täter
Was Linda Polman zu erzählen hat, ist teils tragisch, teils skandalös. Die Tragik des professionellen Helfens liegt darin, dass das Helfen - vornehm ausgedrückt - etwas kostet. Gewalt, Korruption und Skrupellosigkeit, auf die man in den Einsatzgebieten trifft, bedingen das Zahlen von Schutzgeldern, von Schmiergeld oder das Abtreten von bis zu achtzig Prozent der Hilfsgüter an lokale Warlords, die damit die Kriegsökonomie ohne eigenes Investment ins Laufen bringen.
Die Helfer helfen also den Tätern, weil sie sonst nicht an die Flüchtlinge und Kriegsopfer herankommen. Manche Hilfsorganisationen gehen, um sich ihr Territorium zu sichern, sogar so weit, mit ihren Hilfstransporten Waffen zu schmuggeln oder einzelnen Warlords ihre gesamte Infrastruktur zur Verfügung zu stellen.
Inszenierte Betroffenheit
Das Helfer Tätern helfen, ist schon skandalös genug. Wirklich ekelhaft wird es dann, wenn die Not von Menschen dafür benutzt wird, um den Bestand der Hilfsorganisationen zu rechtfertigen und den Geldfluss nicht versiegen zu lassen.
Zu diesem Zweck werden etwa verstümmelte Kinder als sogenannte "Donor Darlings" wie früher in Freak-Shows vorgeführt. Etwa in der Show der amerikanischen Talkmasterin Oprah Winfrey. "Damba war neu Jahre alt, als sie zusammen mit ihrer Mutter Fina amputiert wurde, jede einen ganzen Arm", schildert Polman einen besonderen Fall. Eine Hilfsorganisation brachte das Mädchen aus Sierra Leone in die USA, die Mutter erhielt 100 Dollar, dann hörte sie nichts mehr von ihrer Tochter.
Damba, inzwischen 16 Jahre alt, war von einem amerikanischen Ehepaar adoptiert worden und besucht die High School. Oprah möchte wissen, ob sie wohl noch an ihre Mutter denkt. "Ja", sagt Damba. Nun, dann hätte Oprah eine Überraschung. "Hier ist deine sierra-leonische Mutter!"
Oprahs Publikum springt jubelnd, weinend und applaudierend von den Sitzen auf. Erschrocken kommt Fina, die Mutter, aus den Kulissen zum Vorschein. Sie trägt ein neues Kleid, auch ihre Prothese ist neu, aber sie wirkt dünn und krumm neben all diesen riesigen Amerikanerinnen. "Wir haben für deine Mutter ein Visum für ein paar Wochen arrangiert", sagt Oprah. Danach muss Fina wieder zurück in ihre afrikanische Hütte im Murray Town Camp.
Die Grenzen des Helfens
Vielleicht macht das Geschäft mit der Not viele Helfer zynisch. Vielleicht macht das viele Geld, das jährlich für Hilfsaktionen zur Verfügung steht, blind für den Zweck, vielleicht ist schon die Verwaltung der Hilfe eine hilflose Angelegenheit, weil sie einen Großteil der Energie und Mittel verzehrt, die den Betroffenen nicht mehr zugutekommen.
Linda Polman zeigt in ihrem Buch die Grenzen des organisierten Helfens auf - man könnte auch sagen: das Scheitern einer Hilfsindustrie, die so viel Geld bewegt, dass theoretisch niemand mehr extreme Not leiden müsste. Dass sich trotz des gewaltigen finanziellen Aufwands wenig ändert, beweist nur, dass Hilfe, wie gut oder schlecht sie sein mag, Politik nicht ersetzen kann. Denn das Problem in den meisten Krisengebieten ist nicht der Mangel an Gütern, sondern die Verteilung. Und die kann nur unter politisch stabilen Verhältnissen einigermaßen gerecht sein.
Solange sich diesbezüglich nichts ändert, bleibt auch die Verteilung der Hilfsmilliarden eine ungerechte Angelegenheit. Geholfen wird vor allem den Eliten. Und deshalb, so Linda Polman, muss auch die Option denkbar sein, nicht zu helfen. Nicht unter den Bedingungen einer kriminellen Politik, und nicht unter den Bedingungen marktwirtschaftlichen Handelns. Denn da geht es ausschließlich um Profit und um die Not als Geschäftsgrundlage.
Service
Linda Polman, "Die Mitleidsindustrie. Hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen", Campus Verlag
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