Nicht jedes Atoll ist ein Paradies
Atlas der abgelegenen Inseln
Die Berliner Autorin Judith Schalansky zeigt in ihrem "Atlas der abgelegenen Inseln", dass die Vorstellung vom Urlaubsparadies nicht immer der Wahrheit entspricht. Sie schickt ihre Leser auf eine Reise zu Orten des Schreckens, etwa nach Annobón, Pingelap und Taongi.
8. April 2017, 21:58
Reisen im Atlas
Schon im frühen Alter haben sie ferne Länder interessiert, erzählt Judith Schalansky: "Ich bin in der DDR geboren und habe dort auch meine Kindheit verlebt. Und als ich das erste Mal im Fernsehen irgendwas gesehen habe, was weit weg war - die Galapagos-Inseln und Forscher -, hat mich das sehr beeindruckt. Als ich dann meinte, 'okay, da möchte in jedem Fall später mal hin!', sagte meine Mutter, 'ja, wird schwierig.'"
Weite Reisen waren damals etwas Unmögliches, zumindest außerhalb der sozialistischen Bruderstaaten. Anstatt also wirkliche Orte aufzusuchen, reiste Schalansky als Kind mit dem Finger im Atlas. Man nennt das "Fingerreisen" oder auch "armchair travelling".
Ansammlung von Nicht-Zielen
Inzwischen können auch ehemalige DDR-Bewohner durch die Welt gondeln, trotzdem zieht Schalansky den Atlas immer noch einem Reiseführer vor. In ihrem "Atlas der abgelegenen Inseln" führt sie ihre Leser an Orte, wo sie laut Eigenaussage nie war und niemals sein wird.
Irgendwie auch verständlich, dass Judith Schalansky dort nicht unbedingt hin will, sind die fünfzig Inseln in ihrem Atlas doch alles andere als paradiesisch: "Wir haben eine notorische Vorstellung von Inseln, Palmen, Kokosnüsse und auch noch eine Hängematte - also ein Werbebild", erklärt Schlansky, "aber diese abgelegenen Inseln, die sind halt meistens tatsächlich öde, karg und trostlos."
Absurde und abgründige Geschichten
Judith Schalanskys Atlas voller trostloser Inseln ist ein schönes, in blauem Karton gebundendes Buch, das wie ein Atlas aus längst vergangenen Zeiten anmutet. Die Autorin und Grafikdesignerin widmet jeder Insel eine Doppelseite. Von jedem Eiland gibt es eine liebevoll gezeichnete Karte sowie Sachinformationen in schnörkeliger Schrift: Man erfährt wie groß die Insel ist, wie weit sie von den Festländern entfernt ist und wie viele Menschen dort leben.
Das Wichtigste auf jeder Doppelseite ist aber eine absurd-abgründige Geschichte zu der jeweiligen Insel. Schalansky hat wissenschaftliche Texte, Expeditionsberichte und Entdeckerliteratur gewälzt und nach Anekdoten zu den Inseln durchforstet. Schöne Geschichten waren es allerdings keine, auf die sie bei ihrer Recherche gestoßen ist. Ständig ging es um Tod und Verderben.
Zum Beispiel auf der Insel St. Kilda im Atlantischen Ozean, 160 Kilometer vom schottischen Festland entfernt. Dort überleben im 19. Jahrhundert nur ein Drittel aller Neugeborenen ihre ersten Lebenstage. Kurz nach der Geburt sind die Kinder normalerweise wohlauf, aber dann beginnen sich ihre Kehlen zu verkrampfen, ihre Muskeln zu zucken und sie bekommen einen starren Blick, bis sie schließlich sterben. Später hat man herausgefunden, dass Neugeborenen-Tetanus die Ursache für die hohe Säuglingssterblichkeit war.
Oder die Insel Tikopia im Pazifik, 1.000 Kilometer von Fidschi entfernt. Dort reicht das Essen - vorwiegend Yamswurzeln und Bananen - genau für zwölfhundert Menschen, aber nicht für mehr. Wenn ein Wirbelsturm oder eine Dürre die Ernte zerstört, erhängen sich die unverheirateten Frauen und manche Väter unternehmen mit ihren Söhnen Seereisen, von denen sie nicht mehr zurückkehren. All das, um nicht langsam am Land zu verhungern.
Das Tier im Menschen
Solche Geschichten machen deutlich, wie sich auf abgeschlossenen Inseln ungehindert schreckliche Krankheiten oder befremdliche Sitten ausbreiten können. Auch Machtphantasien von einzelnen Menschen lassen sich auf abgelegenen Inselchen eher realisieren, meint die Autorin:
"Auf Inseln geht es halt meistens nicht ums Leben, sondern eher erst mal ums Überleben. Und da verwandelt sich halt der Mensch dann doch auch vielleicht eher in das Tier, das er auch ist. Und dadurch kommen so ganz unheimliche Seiten heraus. Es entsteht auch so etwas wie rechtsfreie Räume, weil man natürlich nicht kontrolliert wird. Das heißt, es gibt ein Motiv, das sich auch da durchzieht: Dass sich jemand zum König oder zum Kaiser ausruft, von ein paar Quadratkilometern im Nirgendwo."
Das war zum Beispiel auf dem Clipperton-Atoll der Fall: Eine Garnison von 14 Männern, sechs Frauen und sechs Kindern stranden auf der kargen, mit roten Krebsen übersäten Insel, 1.000 Kilometer vom mexikanischen Festland entfernt. Nach einiger Zeit ist nur mehr einer der 14 Männer am Leben. Er ruft sich zum König aus, nimmt sich Mätressen, vergewaltigt und tötet. Nach zwei Jahren Schreckensherrschaft erschlagen ihn die Frauen. Am Ende werden sie und ihre Kinder von einem Schiff gerettet.
Skizzenhafte Geschichten
Wo genau Judith Schalansky diese und die restlichen neunundvierzig Insel-Geschichten recherchiert hat, erfährt der Leser allerdings nicht. In dem Atlas fehlen bibliographische Angaben ebenso wie Jahreszahlen, wann sich die gruseligen Geschehnisse ereignet haben sollen.
Oft bleiben die Geschichten auch sehr skizzenhaft: Dass auf der australischen Maquarieinsel ein junger Seekadett von einer Horde Vögel zerfleischt wird, wird nur angedeutet. Und ob die einzigen Bewohner der Sankt-Paul-Insel – ein französisches Brüderpaar – tatsächlich den ehemaligen dritten Inselbewohner ermordet und verspeist haben, bleibt offen. Wer sich einen Atlas mit harten Informationen erwartet, wird enttäuscht sein.
Preisgekrönte Ferndiagnose
Manch einer mag sich auch wundern, wie Schalansky zu den oft reportagehaften Beschreibungen der Inseln kommt, zum Beispiel der russischen Insel Einsamkeit, ohne jemals vor Ort gewesen zu sein. Aus der Ferne zieht die Autorin jedenfalls folgendes Resümee vom Leben auf abgelegenen Inseln: "Das Paradies ist eine Insel, die Hölle auch. Das ist mir ganz deutlich geworden."
Auch bei uns im Binnenland gibt es mancherorts gute Bedingungen für solche grotesk-gruseligen Geschichten, wie sie sich anscheinend auf abgelegenen Inseln ereignen, findet Judith Schalansky: "Kleine Dörfer sind praktisch der Gegenpol zu diesen Inseln. Denn das sind ja auch kleine Inseln, in Tälern vielleicht. Und man kann eben nicht weg - und dadurch kann man natürlich auch viel über die anderen berichten."
Der "Atlas der abgelegenen Inseln" hat den ersten Preis der Stiftung Buchkunst erhalten und wurde damit als schönstes deutsches Buch des Jahres 2009 ausgezeichnet.
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Judith Schalansky, "Atlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde", mare verlag
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