Vom Enfant terrible zum allseits geschätzten Künstler

In memoriam Christoph Schlingensief

Trauer und Bestürzung löste der Tod Christoph Schlingensiefs aus. In den Nachrufen und Kondolenzschreiben erscheint das einstige Enfant terrible der Berliner Kunstszene als allseits geschätzter Künstler.

Bereits in den letzten Jahren hat sich dieser Wandel der öffentlichen Wahrnehmung abgezeichnet: Schlingensief wurde an den etablierten Theater- und Opernhäusern engagiert und zuletzt mit der Gestaltung des deutschen Pavillons bei der Kunstbiennale in Venedig 2011 beauftragt. Ö1 hat Wegbegleiter und Kollegen Schlingensiefs gefragt, wie sie diesen Wandel erlebt haben.

Kulturjournal spezial, 26.08.2010

"Er hat sich nicht korrumpieren lassen"

"Christoph war schon vor 15 Jahren ein Popstar mit 'talk 2000'. Das heißt, die Theater hatten auch einen Publikumsmagneten mit dem Namen. Sie wusste es gibt ein gewisses Risiko. Es gibt vielleicht einen kleinen Skandal, aber das ist ja auch nicht schlecht, dann ist man auch mal wieder in den Medien", sagt der Berliner Filmproduzent Frieder Schlaich, der seit den späten 1980ern mit Christoph Schlingensiefs befreundet war.

"Also ich finde, das Entscheidende ist, dass er sich bis zum Ende von diesen Umarmungsvorgang durch die anderen nicht hat korrumpieren lassen", so Schlaich weiter. "Er ist genauso radikal geblieben, wie er vorher war. Er ist mit Bayreuth nicht zahm geworden. Er wäre auch durch die Biennale nicht zahnlos geworden Es war einfach so, dass ihn am Ende immer mehr Leute akzeptiert haben."

Multimedia-Bühnen-Performance "Bambiland"

Diese Akzeptanz, sagt Joachim Lux, seit 2009 Intendant des Hamburger Thalia Theaters, habe das breite Publikum dem mitunter anarchisch verspielten Theaterwelten des Christoph Schlingensief nicht immer entgegen gebracht. 2003 holt Joachim Lux, damals Chefdramaturg am Burgtheater, Schlingensief nach Wien. Nach dem Hamburger und dem Zürcher Schauspielhaus ist das Wiener Burgtheater damit die dritte Institution der so genannten Hochkultur, die Schlingensief einlädt.

Am Spielplan steht Elfriede Jelineks "Bambiland", eine Auseinandersetzung mit dem obszönen Spektakel der Kriegsberichterstattung, das anlässlich des Irakkriegs entstanden ist. Schlingensief bringt den Text als Multimedia-Bühnen-Performance auf die Bühne. Obwohl er die Jelineksche Vorlage fast gänzlich eliminiert, wird Schlingensief seinem Ruf als provozierenden Theaterberserker nicht gerecht, eher schon zeigt er sich als streitbarer Moralist.

"Asylwerber" im Container

Weitaus turbulenter als die Zusammenarbeit mit Jelinek am Burgtheater verlief Schlingensiefs Protestaktion "Bitte liebt Österreich!". Im schwarz-blauen Wendejahr erhitzt sie die Gemüter der Wiener. Als Reaktion auf die Regierungsbeteiligung der Haider-FPÖ hatte Schlingensief nach dem Vorbild der Reality-TV-Show "Big Brother" einen Container neben der Wiener Staatsoper aufgestellt, in den er Asylwerber einquartierte. Täglich können Österreicher einen Insassen hinaus wählen, der daraufhin abgeschoben wird. Dass die vermeintlichen Asylwerber eigentlich von Schauspielern dargestellt werden, wird nicht aufgeklärt. Der österreichische Boulevard wetzt die Messer und fordert empört das Ende der Aktion.

In Wien wird Schlingensief dem Ruf des Enfant terrible gerecht. Eine Zuschreibung, die ihm schon in seiner Zeit als Underground verhasst war, denn was Schlingensief in den 80er und 90er Jahren dreht, hat mit dem dominierenden deutschen Autorenkino nur wenig gemein, eher schon mit dem US-amerikanischen Trash- und Splatter-Movie.

Die deutsche Wiedervereinigung im Film

Der Film "Das deutsches Kettensägenmassaker" ist Schlingensiefs Replik auf die Euphorie der Wiedervereinigung, die er als blutiges Schlachtfest ins Bild setzt. Eine Art Einverleibung des Ostens durch den Westen, erzählt in einer Bildsprache, die sämtliche Geschmacksgrenzen genussvoll überschreitet.

Auch wenn sich eine kleine Fangemeinde für Schlingensiefs Filme begeistert, bleibt der Erfolg beim Publikum aus. 1996 entsteht sein vorerst letzter Film. Schlingensiefs Arbeitsweise stellt für Förderstellen und andere potenzielle Geldgeber ein Problem dar, sagt Claus Phillip vom Stadtkino Wien. Trotzdem hat sich Schlingensief immer als Filmemacher verstanden, betont der Filmproduzent Frieder Schlaich.

Erfahrung Bayreuth

Ab 1993 ist Christoph Schlingensief Hausregisseur an Frank Castorfs Volksbühne, arbeitet mit einem Ensemble aus Laiendarstellern, Profis und Behinderten - eine Truppe, mit der er immer wieder den geschlossenen Theaterraum verlässt. Er eröffnet in einer leeren Hamburger Polizeiwache eine Bahnhofsmission für Obdachlose, lädt Arbeitslose zum Bad im Wolfgangsee ein, um Helmut Kohls Urlaubsdomizil in St. Gilden wegzuspülen, und gründet mit "Chance 2000" eine Partei, die das Scheitern zum Programm erhebt. Aktionen, die vordergründig immer wieder ins Absurde kippen, im Kern aber tiefernst gemeint sind.

Spätestens mit seiner Talkshow "talk 2000", in der er sich mit kongenialen Sparring-Partnern wie Harald Schmidt im verbalen Nahkampf misst, wird Schlingensief Kult. Die großen Häuser werden auf ihn aufmerksam. Der Ruf nach Bayreuth folgt 2004.

Bayreuth markiert den vorläufigen Höhepunkt von Schlingensiefs Anerkennung und wird für ihn gleichzeitig zur einschneidenden Erfahrung. Später hat Schlingensief immer wieder vermutet, dass sein Krebsleiden in Bayreuth begonnen habe.

Leben ist Kunst, Kunst ist Leben

2008 die schreckliche Diagnose: Lungenkrebs. Schlingensief wird ein Lungenflügel entnommen. Doch vorläufig erholt er sich wieder. Immer schon ist die Grenze zwischen Kunst und Leben für Schlingensief durchlässig gewesen, also macht er auch jetzt die Krankheit zum künstlerischen Thema. Er schreibt ein Krebstagebuch und bringt die Ready-Made-Oper "Mea Culpa" im Wiener Burgtheater auf die Bühne. Eine Manifestation des Lebenswillens von einem, der dem Tod nur knapp entronnen ist.

In diesen letzten Jahren erfährt Schlingensief auch eine späte Ehrung der Filmwelt und wird in die Jury der Berlinale geladen. Und 2010 folgt die Bekanntgabe, dass Schlingensief den deutschen Pavillon bei der Kunstbiennale in Venedig gestalten wird - eine Anerkennung, die ihm besonders viel bedeutet hat, sagt sein langjähriger Weggefährte Frieder Schlaich.

Posthume Umarmung

Als Christoph Schlingensief vergangenem Samstag seiner Krebserkrankung erlag, überschlugen sich die Stimmen der Bestürzung. Selbst die "Kronen Zeitung", die im Zusammenhang mit seiner Container-Aktion gerichtlich gegen ihn vorgehen wollte, würdigte Schlingensief als einen der bedeutendsten Regisseure der Gegenwart. Eine posthume Umarmung, die dem einstigen Enfant terrible Schlingensief, sicher übel aufgestoßen wäre. Und eine Vereinnahmung Schlingensiefs, die Joachim Lux in den letzten Jahren kritisch beobachtet hat:

"Sicher hat sich da im Laufe der Jahre etwas ereignet, das nicht ganz unproblematisch ist", so Lux, "weil jemand sein ganzes Leben und seine Familie permanent zum Thema seiner Abende gemacht hat, weil er sich Kunst ohne sich selbst einzubringen gar nicht vorstellen konnte. Er hat dann naturgemäß auch den Krebs zum Thema gemacht und da ist es dann allerdings manchmal gekippt, also weniger von seiner Seite aus als von der Seite des Publikums, wo jetzt sozusagen der Heiligenschein des drohenden Todes über ihm schwebte und jetzt alle möglichen Leute, die ihn vorher grauenhaft fanden, jetzt adoriert haben. Er war sozusagen salonfähig geworden durch die Krankheit und das ist natürlich selbst wiederum ein obszöner Vorgang, den man eigentlich eher den Leuten anlasten muss und weniger ihm."