Romandebüt von Ruth Cerha

Kopf aus den Wolken

Anna, Hauptfigur und Erzählerin in Ruth Cerhas Romanerstling "Kopf aus den Wolken", führt ein modernes Nomadenleben. Sie zieht von einem Land ins andere, wechselt Wohnorte und Jobs, achtet darauf allein zu bleiben. Ihre Existenzform ist das Weggehen. Immer wieder. Denn Anna will "sich selbst fremd werden". Das Nomadenleben scheint dafür geeignet.

In Kairo trifft Anna auf Marjana, eine entwurzelte Diplomatentochter, die sich von der Wortkargheit und Spröde Annas nicht abschrecken lässt und beharrlich das Gespräch sucht. Annas Nomadenleben kommt vorübergehend zum Stillstand, sie bleibt länger in Ägypten und lernt dort den empathischen Künstler Paul kennen. Zu ihm fasst sie Vertrauen und beginnt von ihrer Kindheit und dem Verschwinden ihres Bruders Franjo zu erzählen.

Der Vater als schweigendes Zentrum

Alles beginnt in Wien. Annas Vater, nicht in der Lage zu arbeiten und mit seinem eigenen, wohlhabenden Vater, der aus Ägypten stammt, zerstritten, hat sich völlig zurückgezogen. Er sitzt den ganzen Tag in seinem Zimmer und hört Musik. Die Kopfhörer auf, raucht er einen Joint nach dem anderen. Er ist zum Außenseiter in der eigenen Familie geworden, zum schweigenden Zentrum, um das herum sich eine unheilvolle Dynamik entwickelt.

Ein heftiger Streit mit seinem versponnenen Sohn Franjo führt zum Bruch zwischen Vater und Sohn. Franjo zieht sich seinerseits zurück, spricht kein Wort mehr mit dem Vater und widmet sich ganz seinem Aquarium und dem immer obsessiver werdenden Interesse an Fischen. Die Mutter sucht heimlich Hilfe beim Schwiegervater, der die Kinder zu fördern versucht. Dabei verstrickt sie sich zusehends in Lügen. Sie erfindet Freunde Franjos, um dessen Tauchkurse vor dem Vater zu verheimlichen. In ihrer Sehnsucht nach Normalität, beginnt sie langsam an ihre Geschichten zu glauben.

Kein Konflikt wird in dieser Familie ausgetragen, statt klärende Gespräche zu führen, wird geschwiegen. Als Franjo verschwindet, wird Anna von der Mutter mitgeteilt, dass er von seinem letzten Tauchgang in Ägypten nicht mehr zurückgekehrt sei. Ihre Geschichte "vom Jungen, der zu den Fischen ging, weil er sie so sehr liebte" wird zu einer Art Familienmythos.

In der "Flucht-Suche-Schleife"

Anna weigert sich, an den Tod des Bruders zu glauben, stellt sich vor, dass er noch irgendwo lebt. Verstört verlässt sie die Familie und beginnt ihr Nomadenleben.

"Diese Familiengeschichte ist so voller Lücken und Unwahrheiten", sagt Ruth Cerha. "Was passiert mit jemanden, der aus einer Familie kommt, wo ein anderes Familienmitglied mit seiner Geschichte alle Aufmerksamkeit auf sich zieht? (...) Dadurch bleibt sie in dieser Schleife hängen, in dieser Flucht-Suche-Schleife."

Annas Reise besteht aus einer äußeren und einer inneren Bewegung. Ihre innere Reise ist vorerst eine unbewusste. Anna weiß zwar um ihre Flucht vor sich selbst, dass ihr Reisen aber auch gleichzeitig eine Suche nach Franjo ist, bleibt ihr vorerst verborgen. Erst als sie Paul trifft, dessen Bilder von Fischmenschen und Ertrunkenen sie tief berühren und dessen Liebe sie sich öffnet, taucht das verschüttete Trauma an die Oberfläche und Anna kann sich die richtigen Fragen stellen. Sie findet einen Ausgang aus ihrer quälenden Ich-Bezogenheit.

"Der wirkliche Ausgang ist die Beziehung, ist die Kommunikation zwischen der Anna und dem Paul", so Cerha. "Das ist, was sie wirklich aus dieser Schleife rausbringt."

Nach einem Dasein als Beobachterin, die vor wechselnden Kulissen den anderen beim Leben zusieht, kann Anna endlich in ihre eigenes Leben aufbrechen.

Sinnliche, präzise Sprache

Ruth Cerha erzählt in Rückblenden und Einschüben die Geschichte einer Bewusstwerdung. Die verschiedenen Zeitebenen, die inneren und äußeren Vorgänge verbindet sie durch eine schlüssige Motivik und durch eine sinnliche, präzise Sprache. Sie findet dabei einen unaufgeregten Ton, tritt mit der Schilderung psychischen Erlebens nah an den Leser heran ohne je zu psychologisieren.

Ruth Cerha hat einen gut komponierten Entwicklungsroman geschrieben. Eine Geschichte mit ausfransenden Enden. Dicht, nach allen Seiten offen und erst am Schluss in ihrer zwingenden Logik erkennbar – so wie das Leben.

Service

Ruth Cerha, "Kopf aus den Wolken", Eichborn Verlag

Eichborn - Kopf aus den Wolken