Jubel für Regisseur Mario Martone
Geschichtsaufarbeitung in Venedig
Der italienische Regisseur Mario Martone wurde für seinen Film "Noi credevamo" bei den Filmfestspielen von Venedig von Fachjournalisten und Kollegen bejubelt - ein Phänomen, das dort eher selten auftritt. Martones Streifen arbeitet das italienische Risorgimento auf.
8. April 2017, 21:58
Mittagsjournal, 08.09.2010
Großes Publikumsinteresse
Während auf dem Lido von Venedig heute schwere Gewitter niedergegangen sind, waren die Kinosäle der 67. Filmfestspiele wieder einmal gut gefüllt. Neben den Professionisten und Journalisten sind es vor allem viele junge Leute, die schon in der Früh Schlange stehen, um Filme zu sehen, die aus den verschiedensten Ländern und Kontinenten stammen, die man vielfach sonst nicht sehen kann und die sich oft mit der Aufarbeitung der historischen Vergangenheit - etwa in Chile, China oder in Spanien - auseinandersetzen.
"Die traurige Ballade des Trompeters" heißt etwa ein Film, der von der zerstörerischen Beziehung zweier Zirkusclowns handelt, die um dieselbe Frau, eine Trapezkünstlerin, kämpfen. Eine Geschichte, die der spanische Regisseur Álex de la Iglesia mit drastischen Mitteln erzählt und mit Bildern, die die Filmgeschichte zitieren - von Fellinis "La strada" bis zu dem Filmregisseur der Franco-Zeit, Carlos Saura. Schließlich beginnt der Film im spanischen Bürgerkrieg und zeigt, wie die Wunden, der Horror und die feindselige Stimmung bis heute nachwirken.
Sein Film versuche mit Mitteln des Humors, der Ironie und der schwarzen Komödie gleichsam einen Exorzismus dieser dunklen Kapitel der spanischen Geschichte zu betreiben, sagt der Regisseur. Und dieser Exorzismus gelingt Álex de la Iglesia bisweilen besser, bisweilen schlechter.
Italiens Einigungsprozess
Ganz anders nähert sich der italienische Regisseur Mario Martone der Geschichte. Er stützt sich auf historische Fakten und die Zusammenarbeit mit einem anerkannten Historiker, wenn er in "Noi credevamo" das italienische Risorgimento aufarbeitet, also jenen schmerzhaften Einigungsprozess der italienischen Nation, den man im kommenden Jahr mit einem 150-Jahr-Jubiläum begehen will, in einer Zeit, in der Italien so gespalten und zerrissen erscheint wie eben damals. Viele der Probleme des Landes, die immer größer werdende Kluft zwischen Nord und Süd, Arm und Reich sind da zu nennen.
Der Zuschauer müsse selbst die Verbindungen zum Heute herstellen, sagt der ehemalige Theaterregisseur und Leiter vieler Bühnen Italiens, Mario Martone, der Bildkompositionen zu entwerfen weiß und in einer langen Tradition von Visconti und Rosselini bis hin zu den Gebrüdern Taviani steht. Wenn dieser fast vierstündige Film auch von der Rai, vom staatlichen Fernsehen Italiens, produziert wurde und wohl bald dort auch in verschiedenen Folgen gezeigt werden wird, ein Film, der übrigens auch von Interesse für hiesige Fernsehstationen wäre, ist er doch glänzend besetzt mit italienischen Filmstars wie Luigi Lo Cascio, Luca Zingaretti, bekannt als Commissario Montalbano und Luca Barbareschi. Für den Regisseur Mario Martone ging es nicht so sehr um historische Rekonstruktion, sondern gleichsam um die Ausgrabung der Geschichte mit Instrumenten der Gegenwart. Dafür wurde er bei der Pressekonferenz von Fachjournalisten und Kollegen bejubelt, ein Phänomen, das eher selten vorkommt bei den Filmfestspielen von Venedig.
Die Favoriten
Die nationalen Kinematografien stehen heuer am Lido also eher im Vordergrund als Hollywoodglanz, wenn heute auch noch die Schauspieler Vincent Gallo und Ben Affleck ihre Filme zeigen, die sie auch als Regisseure gedreht haben.
Interessanter, wenn auch weniger blitzlichttauglich sind aber wohl Filme aus Chile und China, die derzeit zu den Favoriten für den Goldenen Löwen gehören. Der eine befasst sich mit der Pinochet-Ära, der andere mit einem chinesischen Zwangslager in der Wüste Gobi in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhundert - ebenfalls Aufarbeitungen der eigenen, oft verschwiegenen und schmerzvollen Geschichte. Film ist eben auch Erinnerungsarbeit, sagt Mario Martone.