Roman von Bachmann-Preisträger Peter Wawerzinek

Rabenliebe

"Rabenliebe" heißt der Roman, in dem sich Peter Wawerzinek an seine Jahre im Heim erinnert, an gescheiterte Adoptionsversuche, die ihn zu der Überzeugung brachten, es sei besser, gar nicht adoptiert zu werden, bis er schließlich bei einem Lehrerehepaar dauerhaft unterkam.

In Ostdeutschland zurückgelassen

Jedes Kinderheim ist eine Art Insel. Ich bin ein unentdecktes Inselwesen, auf einer Bergspitze lebend. Mich gibt es in meinem Gebirgsstock zu entdecken. Ich bin vom Aussterben bedroht. Ich lebe Isolation. Ich habe mich in evolutionärer Hinsicht andersartig entwickelt. Heime waren meine Umweltbedingungen. Die Trennung von der Mutter dauert an. Ich bin Ausdruck genetischer Veränderung meines Organismus. Ich bin meine Entwicklung. Ich bin der Werdegang und die Herausbildung einer neuen Art. Ein Wunder, dass ich mich mit anderen Populationen fortpflanzen kann. Ich bin Neuland. Ich bin im Menschenozean als eine neue Insel aufgetaucht. Ich muss abwarten, aushalten, mich von den umliegenden Gebieten her besiedeln lassen. Es gibt ihn nicht für mich, den gleichförmigen und zusammenhängenden Lebensraum, die langfristige, familiäre Konstante. Ich werde zerteilt.

Zerteilt wurde Peter Wawerzinek schon als kleiner Junge, als seine Mutter in den Westen ging und ihre Kinder in Ostdeutschland zurückließ. Mehr als 50 Jahre später hat Wawerzinek aus der tristen Geschichte seiner Jugend im Kinderheim pure Poesie gestrickt. Das Niederschreiben seiner Erinnerungen war für Wawerzinek auch eine wirksame Therapie:

"Man redet sich das ein, dass man nicht so viel wert ist, die Mutter selbst, die eigene, verzichtet auf einen, und mit den Ehebeziehungen hat es manchmal nicht so geklappt, dann habe ich Lebensvorstellungen gehabt, bin abgelehnt worden. Bei den geringsten Versuchen, mal Gelder wie Stipendien zu kriegen, bin ich auch abgelehnt worden, es war also immer ein Prozess von hintereinander Ablehnung und die empfinde ich halt als persönliche Ablehnung infolge von vielen, vielen, vielen, vielen Ablehnungen. Das Buch hat schon viel dazu beigetragen, dass das jetzt nicht mehr so das Grundgefühl ist. Also man kann auch sagen, ich habe die Masken jetzt abgelegt und muss selber erstmal mit dem Konterfei oder mit dem Gesicht, das ich habe, zurechtkommen."

Ein "ewiges Winterkind"

Neben dem therapeutischen Aspekt für den Autor aber ist Wawerzineks Text reinste Literatur. Mit feinfühliger Sprache und eindringlichen Metaphern lässt der Autor seine Kindheit Revue passieren, beschreibt sich als ewiges Winterkind unter anderen Winterkindern oder als Holztrompete der australischen Ureinwohner, durchwirkt seinen Roman mit teilweise verfremdeten Kinderliedern und Gedichten.

Ein wenig hat er diese Poesie auch als eine Art Schutzschild verwendet, gegen die Wucht der Erinnerungen: "Ich habe sehr oft gemerkt, dass Poesie hilft. Dass man es poetisch ganz gut ausdrücken kann, das ist dann halt nicht ganz so wahr wie man das jetzt eins zu eins sagen könnte, aber es ist, wenn es poetisch ein bisschen angesprayt wird... zumindest unterliegt es dem Verdacht, irgendeiner höheren Wahrheit näherzukommen. Also dann lieber poetisch als zynisch, ja?"

"Das war so, das ist so und das geht so weiter"

Dabei ist "Rabenliebe" kein ostdeutscher Roman. Es geht nicht um das sozialistische Erziehungssystem, sondern um einen kleinen Jungen, der nicht verstehen kann, dass seine Mutter ihn einfach verlassen konnte – eine Geschichte, die überall auf der Welt spielen könnte. Unterstrichen wird dieser allgemeingültige Anspruch durch scheinbar wahllos eingestreute Zeitungsmeldungen und Berichte über Fälle von Kindesmissbrauch und Vernachlässigung, manche lang zurückliegend, andere bestürzend aktuell.

"Die Einschübe mit den Nachrichten sollen allen den Kopf waschen", sagt Wawerzinek, "sie sollen allen klarmachen: Das war so, das ist so und das geht so weiter. Es wird immer wieder Situationen geben, wo der Staat zu spät merkt, wo Nachbarn zu spät merken, wo man aus Pietät oder weil das einen nichts angeht, nicht eingreifen wird und dann kommen diese schrecklichen Nachrichten zustande, die dann wenige Zeilen sind, und wer noch intensiv genug mit dem Leben fühlt und mit den Menschen, der wird dort hinter ganz große Schicksale sehen, nicht?"

Begegnung mit der Mutter

Während der erste Teil des Buches sich mit Peter Wawerzineks Zeit im Kinderheim und bei den Adoptiveltern befasst, geht es im zweiten Teil um jene Frau, die all das ausgelöst hat: um die Mutter. Wawerzinek hat sie viele Jahre später aufgesucht – um zu erkennen, dass sie nichts mehr mit ihm zu schaffen hat, dass sie nicht einmal bereut, ihn damals zurückgelassen zu haben.

Diesen Teil zu schreiben sei ihm besonders schwer gefallen, erzählt er: "Da habe ich mich schon gequält, da die richtigen Worte zu finden, zum Beispiel die Szene, ich gehe dann einfach, weil ich mich nicht getraut habe, den Mutterklingelknopf zu drücken, in ein Weinlokal und lade alle dort befindlichen Frauen ein, unter der Bedingung, dass ich sie Mutter nennen darf oder so was. Wie schreibt man so eine Schwachsinnsidee oder ist das kein Schwachsinn, oder lässt man es ganz weg? Aber ich wollte es nicht weglassen und da habe ich gesehen, dass ich teilweise bei dem Wiedergeben von Dingen, die so abgelaufen sind, da schon Schwierigkeiten habe, die dann so wiederzugeben, dass es noch wenigstens auch lesbar wird."

Keine Annäherung mehr möglich

Mit seiner Mutter hat Wawerzinek heute abgeschlossen, hat erkannt, dass es keine Annäherung mehr geben wird: "Wenn vorher noch so ein letzter Zipfel Hoffnung war, dass es so eine verzeihliche Begegnung geben würde, dass eine Umarmung stattfinden könnte, dass ich den Großmut aufbringen darf, ihr zu vergeben, weil sie Anzeichen macht, um Vergebung zu bitten, hätte ich das alles gemacht, hätte ich die Größe auch besessen. Aber da ist nichts gewesen, da ist auch nichts gekommen, und dadurch sehe ich sie nicht mehr, ich habe also wieder den gleichen kalten Zustand zu ihr wie als ich vier war und nichts von ihr wusste, nur dass ich jetzt von ihr weiß, dass ich nichts von ihr mehr wissen will."

Dafür erfuhr er von anderer Seite Anerkennung: Er erhielt den Ingeborg-Bachmann-Preis 2010 und den Publikumspreis noch obendrauf und kann all das selbst noch kaum fassen: "Als ich hingefahren bin, hatte ich mit dem Publikumspreis geliebäugelt. Also ich habe mir gedacht, das wird dem Buch am meisten helfen, wenn du das Publikum auf deiner Seite hast, das lässt sich als Leserschaft nicht so schnell betrügen, man kann sich selber was vormachen, kann den anderen was vormachen, aber die Leserschaft ist so weit gefächert, dass da sehr schnell bemerkt wird, der Autor meint es nicht ernst, und das wollen sie nicht, es muss schon immer alles echt sein, nicht? Und dann wurde es ja der Doppelpack und dann habe ich wirklich den Verleger anderthalb Stunden am Handy rumtelefonieren sehen, und ich habe immer scherzhaft gesagt, jetzt telefoniert er mit London, jetzt telefoniert er mit Japan, jetzt telefoniert er mit Zürich, jetzt telefoniert er mit weiß ich was, mit dem Mond."

Zart, aber kraftvoll

So ist aus einer scheinbar schiefen Lebensgeschichte ein Roman geworden, der nicht nur die Jury in Klagenfurt beeindruckt hat – ein gleichzeitig zarter und kraftvoller Roman, vielschichtig und kompliziert ohne unlesbar zu werden, ein Roman, der sich gegen Vernachlässigung und Lieblosigkeit wendet und aufzeigt, dass die tiefen Wunden in einer Kinderseele nie wirklich verheilen.

Und ein Roman, der den Leser auf eine Reise mitnimmt, in die Gefühlswelt eines verlassenen kleinen Jungen, der einen wunderbaren Weg gefunden hat, sich selbst zu heilen.

Service

Peter Wawerzinek, "Rabenliebe. Eine Erschütterung", Galiani Verlag

Peter Wawerzinek
Bachmannpreis 2010
Galiani - Rabenliebe
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