Das schwere Erbe der sowjetischen Landwirtschaft
Was wurde aus der Kolchose?
Die Errichtung "kollektiver Landwirtschaften" gilt als eines der großen Verbrechen des Stalinismus. Effektiv waren die 44.000 Kolchosen und die 7.400 Sowchosen nie, und spätere Reformversuche endeten im Niedergang. Seit ein paar Jahren versuchen Agroholdings ihr Glück.
8. April 2017, 21:58
Also Genosse, du fährst noch heut' los als Bevollmächtigter des Bezirkskomitees, um die Vollkollektivierung durchzuführen. Du kennst die letzte Direktive des Gaukomitees? Einstellung: hundertprozentige Kollektivierung. Wir brauchen kollektive Riesenwirtschaften! Fahr einstweilen hin und organisier den Kolchos.
Michail Scholochow beschreibt diese Szene in seinem Buch "Neuland unter dem Pflug". Der Roman des späteren Literaturnobelpreisträgers entstand 1930, unter dem unmittelbaren Eindruck der Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft, 1959 wurde er verfilmt: Krieg und Gewalt sind omnipräsent.
Opferreicher Klassenkampf
Der Sieg des Sozialismus durch die Errichtung "kollektiver Landwirtschaften" - die Errichtung des Kolchos-Systems ist eines der großen Verbrechen des Stalinismus: Zwei Millionen Menschen werden quer durch das ganze Land verfrachtet, das heißt deportiert, alleine 1,8 Millionen in den Jahren 1930/31. Die Zahl der Todesopfer wird auf 500.000 bis 600.000 geschätzt.
Stalin nahm sich kein Blatt vor den Mund: "Um das Kulakentum als Klasse zu vernichten, muss in offenem Kampf jeglicher Widerstand dieser Klasse gebrochen werden und ihre Existenzgrundlagen und Entwicklungsmöglichkeiten zerstört werden" Im März 1930 erklärte er in der "Prawda" unter dem Titel "Schwindlig vor Erfolg": "Auf dem Dorf ist der grundlegende Umschwung zum Sozialismus erfolgt."
Leibeigene des Staates
1934 griff die Sowjetmacht zu einer Maßnahme, die nicht wirklich zum Bild des befreiten Kollektivmenschen passte: die Bauern wurden zu Leibeigenen des Staates gemacht: Erst 1981 erhielten 50 Millionen sowjetische Landbewohner eine Pass. Effektiv waren die 44.000 Kolchosen und die 7.400 flächenmäßig noch größeren Sowchosen nie: Weder in der Zeit der Zwangsrequirierung von Getreide unter Stalin, noch unter Chruschtschow, der den größten Kukuruz der Welt produzieren wollte - und im Namen obskurer Züchtungsversuche die Pflanzengenetik unter Strafe stellte.
Anfangs war alles Mögliche und Unmögliche als Kolchose bezeichnet worden und in der Moskauer Dauerausstellung der "Errungenschaften der Landwirtschaft" gefeiert worden: die Baumwollplantagen Usbekistans, die Teepflanzungen an der georgischen Schwarzmeerküste, die Rentierzucht bei den sogenannten "kleinen Völkern" Sibiriens.
Verteilung lokaler Ressourcen
In der Ära Breschnew waren Defizite und Defekte der Kolchose unübersehbar: Mit verständlicher Häme listete der Westen die Tausenden Tonnen Getreide auf, die vom Klassenfeind importiert werden mussten. Allerdings sei Frage, warum die Kolchosen so schlecht funktionierten, nicht richtig gestellt, meint Alexander Nikulin, Ökonom und Soziologe am Moskauer Zentrum für Agrarreformen:
"Als die Soziologen anfingen, das ganze System zu studieren, war die Hauptfrage nicht - ob eine Kolchose schlecht arbeitet, sondern, warum sie überhaupt funktioniert. Die Menschen gingen in diese landwirtschaftlichen Betriebe zur Arbeit, aber sie wurden nicht bezahlt. Sie arbeiteten nicht gerne, hatten aber Zugang zu den lokalen Ressourcen"
"Kamen sie aus dem Kolchos zurück, brachten jeder etwas von dort mit: der Busfahrer einen Kanister Benzin; die Melkerin Milch und der Viehhüter Futter", so Nikulin weiter. "In der Regel wurden all diese Dinge in den privaten kleinen Landwirtschaften und im Netz der Verwandten auf höchst rationale Weise verwendet. Das System war merkwürdig - aber es funktionierte. Dann kam die Perestroika."
Gescheiterte Reformversuche
Höchst rational wurde damals nicht gehandelt: Der Posten des Landwirtschaftsminister galt in der Übergangszeit als Schleudersitz, den man dem innerparteilichen politischen Gegner "überließ". Von den 25.000 Agrarbetrieben des Jahres 1990 - Kolchosen hatte eine Durchschnittsgröße von 5.000 Hektar, Sowchosen 10.000 Hektar - ist heute nur ein Bruchteil geblieben. Die Reformversuche endeten im Niedergang: Wo früher Präsenzdiener und Studenten kollektiv zum Erdäpfelklauben vergattert wurden, standen in den 1990er die Offiziere der abgebauten Sowjetarmee an der nächsten Straßenecke und verkauften Kraut und Karotten aus Säcken. Produziert wurde weder Brot noch Fleisch.
Wovon die Bewohner der einstigen Kollektivwirtschaften, deren Gerätschaften endgültig vergammelten und deren Kuhställe stückweise davongetragen wurden, in den letzten Jahren eigentlich lebten, bleibt jedem Fremden ein Rätsel. Tatjana Nefedowa, Geografin an der Russischen Akademie der Wissenschaften, hat zumindest eine teilweise Antwort:
"Das ist schwer zu verstehen. An an der Peripherie des Gebiets Kostromá lebt ein Teil der örtlichen Bewohner von den Datschniki, den Datschenbesitzern. Das heißt sie reparieren Häuser, helfen bei irgendwelchen Arbeiten. Im Sommer verkaufen sie den Datschniki Lebensmittel. Der deklassierte Teil lebt von den Pensionen der Eltern. Heute sind dort die Babuschki, die Großmütter, die wohlhabenden Leute, die immerhin ihre Pension regelmäßig bekommen."
Anstelle von acht Millionen Menschen im Jahr 1990 arbeiten heute gerade noch zwei Millionen Menschen in Russlands Landwirtschaft. Die im Sommer anreisenden Datschenbesitzer aus den Städten, die dann auch ihre Landwirtschaft betreiben zählen dabei nicht mit.
Verschleuderung von Grundbesitz
120 Millionen Hektar Land wurden mittlerweile an Private abgegeben, Grundstücke von durchschnittlich zehn Hektar Größe. Die erhoffte Entwicklung eines mittelständischen Bauerntums scheitert nach dem Ende des Kommunismus an der Abwesenheit von Maßnahmen wie Krediten, Maschinenleasing und dergleichen.
"Die bekannte Ökonomin Jewgenja Serówa schrieb Anfang der 2000er Jahre in einem Artikel, das Ölbusiness bringe 40 Prozent Gewinne, das Geschäft mit Getreide hingegen 200 Prozent", erzählt Nikulin. "Sogleich begannen die sogenannten Agroholdings wie Pilze nach dem Regen aus dem Boden zu schießen."
Die heute existierenden 160 Agroholdings, ehemalige Kolchosen und Sowchosen, sind gigantische Agrarkomplexe mit Flächen von 150.000 bis 300.000 Hektar. Größen, vor denen selbst die Grafen Potemkin und Orlow erblasst wären. Möglich wurden diese Latifundien, weil Grund und Boden der Reformen aus den 1990er Jahren in den 2000ern einfach verschleudert wurden.
Aktionäre der Agrargiganten sind heute Amerikaner, Holländer, Briten, Deutsche, Israelis und in beträchtlichem Umfang Zyprioten - das heißt russisches Kapital, das den Weg ins Ausland und wieder zurück gefunden hat.
Wie die Armut bekämpfen?
Alexander Nikulin meint in Bezug auf das lateinamerikanische Modell der Landwirtschaft in Eurasien, die "Kolchosniki" hätten - wie in den alten Sowjetzeiten - keinerlei Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen. Und der Staat habe nicht die geringste Idee, wie die sich ausbreitende Armut bekämpft werden könnte. Aber ist das eigentlich die Frage?
"Ein obdachloser Bettler in der Stadt ist weitaus aggressiver, er schafft viel größere Probleme, als ein Alkoholiker am Dorf", erklärt Nikulin. "Der Säufer mag jemand mit seinem Messer niederstechen - in der Stadt zündete er ein mehrstöckiges Haus an oder schafft am helllichten Tag und mitten am Hauptlatz Probleme. Genau aus diesem Grund erhält man diese Enklaven und Reservate der Armut in der frischen Landluft - dort lebt sich die Armut leichter."