Die Gehirnentwicklung bei Mädchen und Buben

Wie verschieden sind sie?

1999 hat Lise Eliot mit "Was geht da drinnen vor?" einen Bestseller über die Gehirnentwicklung kleiner Kinder geschrieben. In ihrem neuen Werk "Wie verschieden sind sie?" geht es der Neurobiologin um die geschlechtsspezifische Gehirnentwicklung.

Eine schwierige Frage

Ganz so einfach ist die Frage, wie verschieden Buben und Mädchen in ihrer Gehirnentwicklung wirklich sind, offensichtlich nicht zu beantworten. Auf knapp fünfhundert Seiten fasst Lise Eliot - Mutter einer Tochter und zweier Söhne - den aktuellen Wissensstand zusammen.

Der Grundtenor ihres Buchs lautet folgendermaßen: Das Gehirn von Menschen entwickelt sich stärker als bei allen anderen Tierarten im Wechselspiel mit seiner Umwelt, sprich, mit Erziehung, sozialem und kulturellem Umfeld. Und der überwiegende Teil dieser Entwicklung passiert nach der Geburt.

Im Vergleich zu den Fortpflanzungsorganen entwickelt sich das Gehirn unglaublich langsam. Während sich in der Schwangerschaftsmitte im Ultraschall untenherum meist schon das Geschlecht erkennen lässt, ist das Oberstübchen allenfalls in der Lage, einen Schluckauf zu koordinieren.

Diese langsame Entwicklung ist unabhängig davon, ob es sich um Schluckauf eines Mädchens oder eines Buben handelt. Selbstverständlich, schreibt Lise Eliot, gibt es auch ein paar Geschlechtsunterschiede, die angeboren sind:

Sie betreffen unter anderem das Tempo der körperlichen Reifung, die Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen, den Grad der Aktivität und der Unruhe, die Pflegeleichtigkeit des Babys und (ja, in der Tat!) die Vorliebe für bestimmte Spiele und Spielsachen.

Angeborene Spielzeugvorlieben?

Die Vorliebe für bestimmte geschlechtsspezifische Spielsachen, die Kinder ab einem Alter von einem Jahr entwickeln, fasziniert Wissenschaftler und stellt Eltern oft vor Rätsel.

Es ist vor allem für diejenigen rätselhaft, die überzeugt sind, dass die plötzliche Vorliebe ihrer Tochter für alles Rosarote und der sichere Griff ihres Sohnes nach allem, was auf Rädern fährt, nicht Folge ihrer Erziehung oder der von ihnen vorgelebten Rollenbilder sein kann. Die Präferenzen der Kleinen scheinen noch dazu sehr weit verbreitet zu sein:

In den USA, in Europa, in Japan und wahrscheinlich überall sonst auf der Welt entscheiden sich zwischen zwei und fünf Jahre alte Jungen mit überwiegender Mehrheit für einen Spielzeuglaster, ein Hot-Wheels-Auto, einen Ball oder ein anderes jungentypisches Spielobjekt, wenn die Alternative eine Puppe ist. Dreijährige Mädchen sprechen sich meist eindeutig für eine Babypuppe, Küchengerätschaften oder ein Kosmetikset aus (vor allem, wenn die Sachen rosa sind).

Statistisch gesehen sind diese unterschiedlichen Vorlieben für Spielzeug der markanteste Geschlechtsunterschied, den Wissenschaftler bei Kleinkindern feststellen konnten. Er sei faszinierend, aber auch irreführend, meint Lise Eliot, weil Erwachsene allzu leicht Erwachsene aus dem Spielverhalten der Kinder auf andere kognitive Fähigkeiten schließen würden. Mädchen würden dann generell größere soziale Fähigkeiten zugeschrieben, Buben mehr technisches Talent. Mit eindeutigen Folgen, wie zahlreiche Studien zum Thema zeigen.

Kinder richten sich an den Vorstellungen aus, die wir von ihnen haben. Wenn wir also die Differenzen zwischen Mädchen und Jungen betonen, setzen sich diese Stereotypen in der Selbstwahrnehmung der Kinder fest und werden zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen.

Dass Eltern gegen besseres Wissen und oft auch entgegen ihren eigenen Überzeugungen die Herausbildung von Rollenklischees bei ihren Kindern unterstützen, ist mittlerweile ebenso belegt.
Dutzende Studien haben ergeben, dass Eltern positiver reagieren, wenn ihr Kleinkind sich einem für sein Geschlecht typischen Spielzeug zuwendet und ihr Sohn beispielsweise einen Hammer in die Hand nimmt oder ihre Tochter einen Spielzeug-Einkaufswagen schiebt.

Angeborene Sprachtalente?

Einen weiteren Schwerpunkt widmet Lise Eliot der Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten von Buben und Mädchen und ihren Unterschieden.

Geschlechtsunterschiede in sprachlichen Fähigkeiten treten schon sehr früh zutage, was darauf hindeutet, dass hier in der Tat angeborene Faktoren am Werk sind. Wir wissen, dass Mädchen mit den ersten Gesten und Wörtern etwa einen Monat früher dran sind als Jungen und im Wachstum ihres Wortschatzes während der gesamten Kleinkindphase ungefähr zwei Monate vor ihnen liegen. In einer großangelegten Studie war der aktive Wortschatz zweijähriger Mädchen etwa 20 Prozent größer als der gleichaltriger Jungen.

Wissenschaft und Praxistipps

Lise Eliot hat für ihr Buch die einschlägige Fachliteratur für die gesamte Kindheit von der Zeit im Mutterleib bis zur Pubertät durchforstet. Sie referiert den aktuellen Wissensstand und die vielen offenen Diskussionen, wenn es um die Interpretation vermeintlich eindeutiger Erkenntnisse geht.

Im Aufzeigen mancher Widersprüchlichkeiten wissenschaftlicher Einzelarbeiten bewegt sie sich noch auf quasi naturwissenschaftlichem Terrain. Jedes Kapitel schließt dann aber mit Empfehlungen, was Eltern, Kindergartenpädagogen und Lehrer tun könnten, um Buben und Mädchen spezieller zu fördern, um ihnen also zu helfen, die Fähigkeiten zu entwickeln, auf die nach traditionellem Rollenverständnis beim jeweiligen Geschlecht eher weniger Wert gelegt wird.

Spätestens dann wird klar, dass Geschlechterdifferenzen, ihre Definition und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, nicht rein wissenschaftlich zu erklären sind. Die Frage, was Mädchen und Buben wann lernen sollten, ist immer auch ein Spiegelbild von Kultur und Gesellschaftspolitik.

Service

Lise Eliot, "Wie verschieden sind sie? Die Gehirnentwicklung bei Mädchen und Jungen", aus dem Amerikanischen von Christoph Trunk, Berlin Verlag.

Berlin Verlag - Wie verschieden sind sie?