Österreichs Bildungsspezialitäten
Die Geschichte der Gesamtschule
Die öffentliche Debatte um die Gesamtschule in Österreich hat sich bis heute nicht ganz vom Klassenkampf verabschiedet. Das sei eine österreichische Spezialität, sagen Bildungsexperten. Ein Blick in die Geschichte des umstrittenen Begriffs zeigt, dass die Idee der Gesamtschule nicht neu ist.
8. April 2017, 21:58
Omnia omnes omnino - Allen ist alles zu lehren, und das auf alle erdenkliche Weise. Auf diese kurze Formel lässt sich der Urtext der Gesamtschuldebatte im deutschen Sprachraum bringen: Die "Große Didaktik" von Johann Amos Comenius. Alle Menschen, egal welcher Herkunft und welchen sozialen Standes, schreibt der protestantische Theologe und Pädagoge im Jahr 1657, sollten ohne Unterschied die gleiche Förderung und Bildung erhalten. Und zwar am besten in Einheitsschulen bis zum 24. Lebensjahr.
Wurzeln in der Reformation
Mit seiner Idee einer Einheitsschule steht Comenius in scharfem Kontrast zur Mehrheit seiner Zeitgenossen, die die Einrichtung getrennter Bauern-, Bürger- und Gelehrtenschulen fordern. Nicht zufällig sind es protestantische Intellektuelle, die sich als erstes für die Gesamtschule stark machen, erklärt Stefan Hopmann, Professor für historische und vergleichende Bildungsforschung an der Universität Wien.
"Im Kern steckt dahinter die Reformationsidee, dass alle den gleichen Zugang zu Gottes Wort und den gleichen Zugang zur Bibel haben sollen. Und daraus folgert die Reformation, dass Jungs und Mädchen gleichermaßen die für christliche Klugheit notwendigen Fähigkeiten erwerben müssen - also insbesondere Lesen."
Schule als Eingliederungsinstrument
Im 18. Jahrhundert verbindet sich dieses Anliegen mit einer zweiten Idee: der Idee des Nationalstaats. Die Schule wird zum zentralen Ort, um jeden und jede möglichst früh in das neue Gemeinwesen einzugliedern. "In diesem Kontext ensteht dann auch das politische Programm einer Gesamtschule", sagt Stefan Hopmann. "Sie soll dafür sorgen, dass man nun nicht nur die für die Religion, sondern auch die für das Staatsbürgersein als notwendig erachteten Tugenden vermittelt bekommt."
Pläne für "Progymnasium" nie verwirklicht
In Österreich wird der Ruf nach einer Gesamtschule erstmals im Zuge der Revolution von 1848 laut. Kinder schon nach der vierten Schulklasse zu selektieren und in unterschiedliche Schultypen aufzuteilen sei ein Fehler, kritisiert der liberale Unterstaatssekretär im damals neuen "Ministerium des öffentlichen Unterrichts", Ernst Freiherr von Feuchtersleben und fordert: "Wir brauchen eine gemeinsame Schule, um allen Klassen der Gesellschaft eine gemeinschaftliche höhere Bildung zugänglich zu machen."
Der Plan von Feuchtersleben, ein "Progymnasium" einzurichten - eine Gesamtschule für alle Elf- bis Vierzehnjährigen, die an die Stelle der alten Bürgerschule, des Untergymnasiums und der Unterrealschule treten soll - hat bis zum Ende der Monarchie keine Chance auf Verwirklichung. Erste konkrete Gesamtschulprojekte entstehen es erst im "Roten Wien" der Zwischenkriegszeit.
Erste Schulversuche in Wien
Im Jahr 1922 startet der Wiener Stadtschulratspräsident Otto Glöckel Schulversuche mit einer "Allgemeinen Mittelschule" in Wien. Unter dem Motto "Einheitlichkeit so weit wie möglich, Differenzierung so weit wie notwendig" soll sie gleiche Bildungschancen für alle Schülerinnen und Schüler von der fünften bis zur achten Schulstufe herstellen.
Die konservative Presse schäumt: Glöckel sei ein "Schulverderber" und ein "Schulbolschewist", die Einheitsschule nichts als "öde Gleichmacherei" und eine Gefahr für das Bildungsniveau der traditionellen Mittelschulen. In ihrem Parteiprogramm von 1926 holen die Christlichsozialen zum Gegenschlag aus und fordern "ein in seinen Abstufungen dem Bildungsbedürfnisse der verschiedenen Berufsstände und der Eigenart der verschiedenen Gebiete angepaßtes, im Geiste jedoch einheitliches, auf Religion und Volkstum aufgebautes Schulwesen".
Einführung der Hauptschule
Der Konflikt zwischen schwarzem Unterrichtsministerium und rotem Stadtschulrat spitzt sich zu. Nach langen Kämpfen und dem Rücktritt zweier Unterrichtsminister kommt es 1927 doch noch zum Kompromiss. Die Sozialdemokraten geben das Ziel einer einheitlichen Pflichtschule für alle bis zum 14. Lebensjahr auf. Im Gegenzug erreichen sie die Einführung der vierklassigen, unentgeltlichen Hauptschule, deren Lehrpläne identisch sind mit jenen der Unterstufen der Mittelschulen. Der Theorie nach sollen Hauptschülerinnen und -schüler nun problemlos in die Mittelschule wechseln können; in der Praxis geschieht das allerdings selten.
Der Anspruch der Sozialdemokraten, das "Bildungsmonopol der Bourgeoisie" zu brechen, wie es im "Linzer Programm" von 1926 heißt, scheitert. Und zwar zwangsläufig, ist der Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann überzeugt. Denn die österreichische Sozialdemokratie vollziehe in den 20er Jahren einen problematischen Schritt: Anstatt eine Bildung zu fordern, die sich an den Bedürfnissen der Arbeiterklasse orientiert, fordert sie "bürgerliche Bildung für alle".
Skandinavische Erfolgsmodelle
In jenen Ländern, die im 20. Jahrhundert erfolgreich Gesamtschulsysteme einführen, verfolgen Arbeiterbewegung und fortschrittliche bürgerliche Gruppierungen in der Regel andere Strategien, sagt Stefan Hopmann. Nicht Teilhabe am Gymnasium lautet hier die Devise, sondern Aufwertung der Volksschule: "In Norwegen, Dänemark und Schweden entwickelt man - zunächst übrigens vom Lande her und dann erst in den Städten - die Qualität der Volksschulen so, dass die dann langsam die bürgerlichen Angebote überflüssig machen und verdrängen", so Hopmann. "Deren Weg ist gerade umgekehrt: nicht Teilhabe am bürgerlichen Gymnasium, sondern Aufbau und Stärkung von tragfähigen Alternativen, in denen die Bildungschancen mindestens die gleichen, wenn nicht die besseren sind. Das ist der Unterschied. Und deshalb kommt die österreichische Debatte auch nicht vom Fleck, weil sie noch immer in diesem 20er Jahre-Ding ist. Frau Karl hat das aus Versehen wunderbar auf den Punkt gebracht neulich aus Versehen mit der klassisch sozialdemokratischen Forderung nach dem 'Gymnasium für alle'."
Streitgegenstand ist historisch tot
Ganz vom Klassenkampf hat sich die öffentliche Debatte um die Gesamtschule in Österreich also bis heute nicht verabschiedet: "Natürlich spiegeln Schulstrukturen nix anderes als soziale Strukturen wider", betont Hopmann. "Aber beide Seiten sitzen im Prinzip immer noch im selben Schützengraben; Die eine kämpft noch immer darum, eine gleichberechtigte Beteiligung an der Struktur der anderen zu bekommen, und die andere reagiert strukturkonservativ und sagt: Nein, wir wollen aber nicht zu viele von euch. Das ist wirklich eine österreichische Spezialität - dass beide Seiten es nicht geschafft haben, zu merken, dass der Streitgegenstand historisch tot ist."
Denn die Bildungsforschung der letzten Jahre, so Stefan Hopmann, hat eines deutlich gezeigt: Nicht die Oberflächenstruktur oder der Name einer Schule entscheidet über die Verteilung von Bildungskapital, sondern letztlich das, was in ihr gemacht wird. Das Label "Gesamtschule" allein bedeutet noch lange nicht Chancengleichheit: "Eine wirkliche Änderung wäre ja nur dann gegeben, wenn wir tatsächlich bereit wären, denen, die weniger Bildungsressourcen zuhause haben, mehr in der Schule zu geben. Also produktive Ungleichbehandlung. Ob ich die jetzt in einer Gesamtschule mache wie die Skandinavier oder in vielen verschieden Schulformaten wie die Kanadier oder Holländer, ist egal. Die Frage ist: Bin ich bereit zur produktiven Ungleichbehandlung? Und die ist politisch schwer durchsetzbar."