Die Einsamkeit am Ende der Welt
Patagonische Gespenster
Patagonien ist spätestens seit Bruce Chatwins Reportagen ein perfekter Projektionsort für Reisende, die das Spezielle suchen. Deshalb ist der Tourismus im chilenischen Teil Patagoniens mittlerweile auch zur Haupteinnahmequelle geworden. Im argentinischen Teil hingegen ist nach wie vor die Erdölindustrie der wichtigste Wirtschaftsfaktor.
8. April 2017, 21:58
Auch der Großvater der Autorin hätte eigentlich an einer Erdölbohrstelle arbeiten sollen, aber er zog es vor, Landwirtschaft zu betreiben. Und so nebenbei gründete er in Patagonien sein eigenes kleines Bulgarien.
Im Laufe der Zeit sorgte er dafür, dass sich hier in perfekter Nachahmung ihrer Vorbilder die aus der Heimat vertrauten Tiere, die Rhythmen von Aussaat und Ernte, der Joghurt meiner Großmutter, Zeitschriften in kyrillischer Sprache und als gelegentliche Besucher seine bulgarischen Freunde einstellten.
Die Abgeschiedenheit der Gegend
Maria Sonia Cristoff wuchs in Patagonien auf und ging später nach Buenos Aires. 20 Jahre danach besuchte sie ihre Heimat wieder. Sie wollte Reportagen über die Einsamkeit und Abgeschiedenheit der Gegend schreiben und suchte deshalb jene Ortschaften auf, die man sonst nicht betritt, und wenn doch, nach spätestens einer Stunde wieder verlässt.
Cristoff ließ sich in einer Ecke nieder und lieferte sich ganz der Langeweile und der Trägheit der Orte aus. Irgendwann begannen die Menschen mit ihr zu sprechen und da man in Patagonien nur selten Fremde trifft, hörten die Leute gar nicht mehr zu reden auf. So entstanden intime Porträts von Menschen, die versuchen, die allumfassende Einsamkeit zu ertragen.
Wächter der Busstation
So wie León, der in Canadón Seco einen kleinen Laden betreibt. Früher, als hier noch die Erdölindustrie boomte, brummte auch sein Geschäft. Aber heute stehen nur noch zwei alte Parfümflaschen herum, eine Kunststoffzuckerdose, die schon lange ihre Farbe verloren hat, zwei Kämme, drei Gläschen mit eingetrocknetem Nagellack und noch ein paar andere Dinge, die niemand haben will.
"Wenn man daran denkt, dass ich bloß für eine Woche zurückgekommen war und für immer dablieb", wird León immer wieder sagen. Fünfmal am Tag kommt der Bus und León verkauft Tickets. Das ist mittlerweile seine wichtigste Einnahmequelle. Weil aber die Busfahrer öfters auf die Station vergessen, und er seinen Kunden dann das Geld zurückgeben muss, ist das mittlerweile seine Hauptbeschäftigung: Den durchfahrenden Bus mit allen Mitteln aufzuhalten.
León hat sich mittlerweile arrangiert. Mit der Einsamkeit, damit, dass er sein großes Ziel, in Madrid Architektur zu studieren, nie verfolgen konnte, weil ihm der Vater das Studium nicht bezahlte; auch hat er sich damit abgefunden, dass er keinen Alkohol mehr trinken darf. Nur mit einem wird er nicht fertig. Mit seiner Schizophrenie.
Sie ist stärker als er, jeden Morgen besiegt sie ihn aufs Neue. All der Kummer, die Bitterkeit. Bloß um aus dem Bett aufzustehen, muss er seine ganze Kraft zusammennehmen, die, die er in sich hat und die, die er, woher auch immer, noch dazu bezieht.
Gedanken als einzige Begleiter
Es ist das ein wiederkehrendes Moment in den Reportagen von Maria Sonia Cristoff - die Menschen berichten, wie die Einsamkeit ihren Geist und ihren Körper verändert. Zum Beispiel Ramiro. Er will Priester werden und muss sein erstes Ausbildungsjahr hier am Ende der Welt absolvieren. Bis jetzt sei alles gut gegangen, sagt er, aber vor drei Tagen spürte er zum ersten Mal diesen Schwindel, ein Brennen in der Magengrube, das nach oben steigt und ihm dann auf die Brust drückt. Er kann noch so viel beten, dieses Unwohlsein will und will nicht weggehen.
Nicht viel besser ergeht es Federico, der für die Erdölgesellschaft Bohrlöcher kontrolliert. Bei ihm wirkt sich zwar die Einsamkeit nicht körperlich aus, aber verändert hat sie auch ihn. Acht, manchmal zehn Stunden muss er von einer Bohrstelle zur anderen fahren. Und wenn er alleine durch die Einöde rollt, sind seine abschweifenden Gedanken seine einzigen Begleiter.
Bei dieser Arbeit ist man ständig gezwungen, alleine zurechtzukommen, und wenn später die anderen wieder auftauchen, hat man ihnen nichts mehr zu sagen, er weiß jedenfalls nicht, was er dann noch fragen oder erzählen soll, im Gegenteil, er merkt, dass er immer weniger von den anderen braucht.
Die Gespenster im Kopf
Maria Sonia Cristoff beschreibt in ihren großartigen Texten weniger einen Ort als einen Gemütszustand. Ja, natürlich geht es um Patagonien. Aber diese Geschichten könnten genauso gut an jedem anderen abgeschiedenen Ort der Welt entstanden sein. Das Buch "Patagonische Gespenster" handelt genau davon. Von den Gespenstern, die im Kopf entstehen, wenn man nur mehr auf sich selbst zurückgeworfen ist. Und davon, wie die Menschen diese Einöde aushalten - oder eben auch nicht.
Hier verschwinden oft Leute. Eines schönen Tages verlassen sie ihr Haus und kehren nie wieder zurück. Ohne jeden Grund und ohne jemandem ein Wort zu sagen. Sie tauchen einfach nicht mehr auf.
Service
Maria Sonia Cristoff, "Patagonische Gespenster. Reportagen vom Ende der Welt", aus dem Spanischen übersetzt von Peter Kultzen, Berenberg Verlag
Berenberg Verlag - Patagonische Gespenster