Roman von Ricardo Piglia
Ins Weiße zielen
Ricardo Piglia ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen argentinischen Autoren. 1967 erhielt er für seine erzählerischen Leistungen den renommierten "Premio Casa de las Ámerica" und genau 30 Jahre später den "Premio Planeta" für seinen Roman "Plata quemada" ("Brennender Zaster"), den Leopold Federmair als erstes seiner Werke in die deutsche Sprache übertragen hat.
8. April 2017, 21:58
Als notorischen "Wenigschreiber, der verschlungene Denkwege geht, seine Manuskripte liegenlässt und später neu schreibt", stellt Leopold Federmair in seinem kürzlich erschienenen Essay-Band "Buenos Aires, Wort und Fleisch" den Literaturkritiker, Wissenschaftler und Herausgeber Ricardo Piglia dar. Florian Müller hat sich Ricardo Piglias neuestes Werk "Blanco nocturno" angesehen, das in der deutschen Übersetzung unter dem Titel "Ins Weiße zielen" erschienen ist.
Warum musste Durán sterben?
Durán wurde tot auf dem Fußboden seines Hotelzimmers aufgefunden, mit einer Stichwunde in der Brust. Eine Putzfrau hatte ihn entdeckt, als sie das Telefon hinter der Tür klingeln hörte und niemand abnahm. Sie dachte, das Zimmer sei unbewohnt. Es war zwei Uhr nachmittags.
Ein rätselhafter Mord an einer rätselhaften Person beschäftigt Kommissar Croce und seinen Assistenten Saldías. Wer war dieser Tony Durán, dieser US-Amerikaner puertoricanischer Herkunft? Und vor allem: Was brachte ihn von New York in dieses kleine Nest in der Provinz Buenos Aires, um ihm, Kommissar Croce, mit seinem eigenartigen Tod diese Arbeit zu bescheren? War der Grund wirklich eine wilde Dreiecksromanze mit den Zwillingstöchtern des alten Belladona? Waren es die Rennpferde, wie er behauptete, oder waren die Motive seiner Reise völlig andere? Und was haben die 100.000 Dollar in bar mit dem Verbrechen zu tun, die Croce in der Nähe des Tatorts gefunden hat? Gibt es einen Zusammenhang zum Selbstmord eines Jockeys und seinem befremdlichen Abschiedsbrief?
In seinem neuesten Roman bleibt Ricardo Piglia dem Genre der Kriminalliteratur treu und lässt seinen gedankenversunkenen Kommissar Croce so lange ermitteln, bis der Staatsanwalt Cueto seine Einweisung in die Irrenanstalt veranlasst, damit der Kommissar nicht auch noch die Machenschaften des Staatsanwalts aufdeckt.
Eine Familiengeschichte
Es gab zahlreiche Vermutungen, was dem Alten zugestoßen sein könnte: ein Pferd habe ihn abgeworfen, als es von einem aus Norden kommenden Heuschreckenschwarm überrascht wurde (...); er habe einen Herzinfarkt erlitten, als er eine Paraguayanerin im Puff von Bizca vögelte, und das Mädchen habe ihm das Leben gerettet, weil sie, fast unbewusst, mit ihrer Mund-zu-Mund-Beatmung weitergemacht habe; oder er habe eines Tages entdeckt, dass ihn eine nahestehende Person (...) vergiften wollte (...).
Die Geschichte der Familie des alten Belladona, der seit diesem Vorfall an den Rollstuhl gefesselt ist, steht im Mittelpunkt der Handlung. Sein Vater Bruno, der angeblich alleine als 10-Jähriger aus Triest nach Argentinien gekommen war und als Ingenieur beim Eisenbahnbau Karriere gemacht hatte, legte das Fundament für die wohlhabende Familie.
Mit seinen Söhnen Luca und Lucio baut der alte Belladona, Brunos Sohn, eine Autofabrik für concept cars auf. Später beschuldigt Luca seinen Vater und Lucio die Firma durch Spekulationsgeschäfte in den Konkurs getrieben zu haben.
Zwei schillernde Gestalten in der Einöde von Tapalqué sind Belladonas Zwillingstöchter Sofía und Ada, wobei Adas Name wohl nicht ganz zufällig Assoziationen zu Vladimir Nabokows Romanfigur Ada weckt:
Plötzlich fiel ihr eine Haarsträhne wie ein Vorhang über das Auge. Als sie sich die Bluse etwas weiter aufknöpfte, konnte Renzi einen Blick auf ihre wohlgeformten, braungebrannten Brüste erhaschen, und als sie einen ihrer Arme hob, gab der Ausschnitt unter der Achsel die Sicht auf einen dunklen Flaum frei (...). All das schien ein Teil ihres Stils - oder der Vorstellung, die sie von Eleganz hatte - zu sein.
Man kommt sich näher
Renzi ist ein Journalist aus Buenos Aires, den zunächst das Rätsel um das Verbrechen nach Tapalqué lockt, der aber später die Ermittlungen für Kommissar Croce übernimmt, als dieser in der Klapsmühle ausharren muss. Nicht mit Ada, aber mit ihrer Schwester Sofía, die ihr aufs Haar gleicht, kommt Renzi dann nicht nur ins Gespräch.
Sofía erkennt in Renzi einen Studienkollegen aus La Plata wieder und zwischen einigen Ladungen Koks und gutem Sex erzählt sie ihm die Geschichte ihrer Familie. Dieses Gespräch auf der Terrasse des Anwesens ist neben der auktorialen Erzählperspektive einer der Handlungsstränge des Romans.
Zahlreiche Zitate und Anspielungen
Der Literaturwissenschaftler Ricardo Piglia setzt in seinem literarischen Werk dazu rund vierzig Fußnoten. Hier ein Beispiel:
Die hiesige Steuerflucht ist vor allem auf die sogenannten Kofferboten zurückzuführen. Man nennt sie so, weil sie in einer Aktentasche hohe Geldsummen in bar mit sich herumtragen. Im Allgemeinen bieten sie den Gemüsegroßhändlern, Treibhausbesitzern und Agrarproduzenten bessere Preise, wobei sie die Steuer mit Rechnungen umgehen, die auf Scheinfirmen ausgestellt sind. (La Prensa, 10.2.1972)
Vom Professor, der unter anderem in Harvard und Princeton unterrichtet, darf man sich einen intellektuellen Kriminalroman erwarten. So werden Zeiten- und Personenwechsel in den Erzählungen von Luca Belladona akribisch aufgezeigt und interpretiert. Piglias historisch-literarisch bewanderte Protagonisten zitieren Autoren wie Dostojewski, Shakespeare, Kant, Kierkegaard, Hemingway oder Thomas Mann.
Luca Belladona sieht sich in seinem Feldzug zur Rettung der Firma schon als Napoleon und ist dem Psychologen Carl Gustav Jung zugetan. Auch Anspielungen zur Bibel fehlen nicht, wenn sich unter den zwölf Aufsichtsräten der Firma ein Verräter befindet. Und der Journalist Renzi, der auch in anderen Werken Ricardo Piglias als Protagonist auftaucht, ist naturgemäß ein verhinderter Schriftsteller.
Es kommt immer anders...
Nun, wie geht die Geschichte aus? Nicht nur die von vielen Protagonisten ersehnte Rückkehr von Juan Domingo Perón in die argentinische Casa Rosada will sich nicht einstellen. Auch der Gerechtigkeit wird in diesem Fall nicht Genüge getan. Sonst will der Rezensent zu einem für den potenziellen Leser offenen Verfahren keine weitere Stellungnahme abgeben. Sagen wir es daher lieber mit den diffusen Worten von Kommissar Croce:
Es stimmt nicht, dass man die Ordnung wieder herstellen kann, es stimmt nicht, dass die Verbrechen aufgeklärt werden... (...) Wir strengen uns an, Gründe zu erforschen, Auswirkungen zu erklären, aber das vollständige Netz aus Intrigen werden wir nie verstehen. Wir isolieren Fakten, ziehen Zeugen heran, halten uns mit möglichen Tathergängen auf, versuchen ins Schwarze zu treffen und liegen doch immer daneben.
Auch wenn der Kommissar also in diesem Zitat offen lässt, wer der wirkliche Täter war, ist uns damit zumindest der Titel des Romans, "Ins Weiße zielen", etwas klarer geworden.
"Wir kommen um Wertungen und Entscheidungen nicht herum. Was wir langweilig oder unterhaltsam finden, bestimmen wir", schreibt Leopold Federmair in seinem Essay-Band "Buenos Aires, Wort und Fleisch", der Interessierten einen profunden Einblick in die argentinische Literatur gibt. Nun, da wir um eine Wertung nicht herumkommen, sei dieser Roman zur Lektüre empfohlen, selbst wenn Kommissar Croce seinem Freund Renzi erklärt, er lese zu viele Krimis. Wer wissen will, warum Jorge Luis Borges der überzeugendste Leser ist und was er mit Franz Kafka gemeinsam hat, und wer gerne Ergüsse eines Literaturprofessors mit literarischen Qualitäten liest, dem sei zusätzlich Ricardo Piglias Essay "Der letzte Leser" empfohlen.
Service
Ricardo Piglia, "Ins Weiße zielen", aus dem Spanischen übersetzt von Carsten Regling, Wagenbach-Verlag