Poesie von Marica Bodrozic
Das Gedächtnis der Libellen
Marica Bodrozic' Geschichte beginnt dort, wo "André Bretons 'Nadja', dieser berühmte surrealistische Roman, aufhört." Bei Breton muss Nadja für 40 Jahre ins Gefängnis, bei Marica Bodrozic muss sie ins Leben.
8. April 2017, 21:58
Und so schickt Marica Bodrozic ihre Protagonistin ins Leben und sie tut das wie immer auf sehr behutsame, zarte und poetische Weise. "Das Gedächtnis der Libellen" heißt der Roman, in dem die Erzählerin Nadeshda nach Amsterdam reist, um dort ihren Geliebten, den Schriftsteller Ilja zu treffen.
Neuer Name, neue Hoffnung
Ilja ist verheiratet und hat Nadeshda schon bei ihrer ersten Begegnung erklärt, dass ihre Beziehung keine Zukunft haben könne, denn er sieht seine Ehe als ein sicheres Schiff, das er nicht verlassen möchte. Aber dennoch treffen Ilja und Nadeshda einander immer wieder, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Städten, nicht nur in Amsterdam sondern auch in Paris oder New York.
Nicht ganz zufällig hat Marica Bodrozic ihrer Hauptfigur den Namen Nadeshda gegeben, was so viel bedeutet wie "Hoffnung": "Die Hoffnung bezieht sich in diesem Falle darauf, mit einem neuen Namen vielleicht etwas Neues im eigenen Leben zu erschaffen", so Bodrozic, "denn die Nadeshda sagt, dass sie sich diesen Namen gegeben hat, dass sie eigentlich ganz anders heißt. Und dieser Name führt sie sozusagen in dieser Geschichte, und irgendwann löst sie sich auch von diesem Namen, obwohl sie ihn noch immer trägt".
In die Gefühlswelt eintauchen
Bevor sich Nadeshda allerdings lösen kann, muss sie den weiten Weg durch ihr eigenes Inneres gehen und vor allem eines lernen: zu vergessen. "Nadeshda ist jemand, der überhaupt nichts vergessen kann", erklärt Bodrozic, "und das wird ihr zu einem ganz schweren - sagen wir mal - inneren Koffer, den sie immer mit sich trägt. Und während viele Menschen lernen müssen, wie man sich erinnert, muss Nadeshda lernen, wie sie Dinge vergisst."
All das beschreibt Marica Bodrozic in ihrer einzigartigen Sprache, die so poetisch und kunstvoll und gleichzeitig so natürlich ist, dass sie atmet und lebt und den Leser scheinbar ganz mühelos tief in die Gefühlswelt von Nadeshda eintauchen lässt.
Wenn das Leben weder drinnen noch draußen ein Gefängnis mehr ist, wird alles anders werden, von allein und nicht etwa deshalb, weil ich es will. Vielleicht wäre das große Vergessen eine Erlösung. Manchmal stelle ich mir vor, dass es so etwas gibt, einen Zeitfluss, in dem das Vergessen wohnt. Wir bräuchten nur Teil des Wassers zu werden, und schwimmend kämen wir an in einem anderen Leben, mit einer anderen, neuen Biografie könnten wir lieben, als sei nie jemand auf dieser Erde durch die Liebe verletzt oder von ihr geheilt worden, als sei sie neu, eine unerprobte, unerhörte Erfindung.
Das Erbe der Libellen
Noch etwas anderes kann Nadeshda nicht vergessen: ihren Vater, der mit ihrer Mutter in die USA ging und die Fünfjährige bei ihrer Tante Filomena in einem kroatischen Dorf zurückließ. Lange versteht das Mädchen nicht, was geschehen ist, erst viele Jahre später erfährt Nadeshda die schreckliche Wahrheit, sie begreift, was ihr Vater getan hat und warum im Dorf immer wieder vom Erbe der Libellen gesprochen wird.
"Der Vater von Nadeshda, der ja ein sehr gewalttätiger, aggressiver Mensch ist und so von Nadeshda erinnert wird, hat in seiner Kindheit und Jugend strategisch die Libellen getötet", erklärt Bodrozic. "Er hat ein Libellenalbum angelegt und hat in dieses Album die Libellen abgelegt. Und für mich beim Schreiben standen die Libellen gleichsam für die Schönheit, also für das, was wir suchen, was wir aber eigentlich mit den Augen nicht so erfassen können. Also das Innere, die Schönheit eines Menschen, der Natur, von allem, was Leben ist. Und da gibt es eben diese Verknüpfung zwischen der inneren Welt der Protagonistin und der Welt dieses Vaters."
Nicht das Denken allein zählt
All dies erzählt Marica Bodrozic nicht linear, sie springt in der Zeit vor uns zurück, von Nadeshdas Zugfahrt nach Amsterdam in die Jahre ihres Studiums in Paris, von Kindheitserlebnissen zu Erinnerungen an die Begegnungen mit Ilja. Diese Zeitsprünge erscheinen nur auf den ersten Blick verwirrend, denn die Autorin versteht es, den inneren Zusammenhalt ihrer Geschichte zu bewahren und dadurch stringent zu bleiben.
"Mich hat das interessiert, so ein bisschen fragmentarisch diesen Roman zu gestalten, weil diese Figur eben auch so ist. Es ist eine Person, die sehr stark auch im Denken verankert ist und die mit dieser Liebesgeschichte entdeckt, dass die Welt eben nicht über das Denken allein funktioniert, sondern eben auch über den Körper, über die Sinnlichkeit, über die haptische Welt."
Fünf Jahre lang hat Marica Bodrozic an ihrem Roman gearbeitet, und sich dabei, wie sie sagt, erstmals von ihren autobiografischen Resonanzraum abgelöst: "Es macht einfach Freude, in verschiedener Form das Ich zu gebrauchen und sich dann von diesem tatsächlichen Herkunfts-Ich abzulösen und so ein Ich zu nehmen, das eben ein weibliches Ich ist und mit diesem Ich dann zu spielen. Ohne dass es mein Leben wäre."
Neuer schmerzender Anfang
Für Nadeshda wird die Zugfahrt nach Amsterdam zu einer Reise durch ihre Vergangenheit, die ihr eine andere Sicht der Dinge beschert. Sie muss sich von Ilja lösen, aber dieses Ende wird zu einem neuen Anfang, keinem einfachen Anfang, sondern einem Anfang, der schmerzt, der es Nadeshda aber gleichzeitig ermöglicht, nicht mehr nur nach innen, sondern auch nach außen zu schauen.
"Sie hört auf, über die anderen nachzudenken und schaut einfach, was da ist, zum Beispiel in Wien, was sie umgibt, in einem Café, was da ist, was zu sehen ist", sagt Bodrozic. "Das ist vielleicht ein Aspekt, den ich mit dieser Figur teile, weil ich das sehr interessant finde, diese Erfahrung im Leben zu machen, von der Metaphysik abzurücken und satt zu werden sozusagen an der berührbaren Wirklichkeit."
Service
Marica Bodrozic, "Das Gedächtnis der Libellen", Luchterhand Literaturverlag
Luchterhand - Das Gedächtnis der Libellen