Der Kampf um die richtige Ordnung

Mitte und Maß

Der Mittelstand werde ausgeplündert, er sei am Verschwinden, heißt es. In der politischen Mitte wollen aber so gut wie alle Parteien stehen. Umkämpft und umworben ist sie, die Mitte der Gesellschaft. Der Historiker Herfried Münkler spürt der Idee von der "goldenen Mitte“ nach.

Ideengeschichtliche Streifzüge

Hat die Mitte ausgedient? Ist die Mitte sozial und politisch im Untergang begriffen? Ausgehend von der zunehmend heftigen Diskussion um die Bedeutung der Mitte versucht Herfried Münkler anhand ideengeschichtlicher Streifzüge Erkenntnisse für die aktuelle Lage zu gewinnen. Weiters zeigt er, welche Wert- und Vorstellungswelten in der Geschichte mit der Metapher von der "goldenen Mitte" verbunden wurden.

Doch woher kommt die Idee, grundlegende Koordinaten des Richtungssinnes auf den politischen und moralischen Bereich zu übertragen und in ein Werturteil zu verwandeln?

Die Vorstellung von Mitte und Rändern, Zentrum und Peripherie ist mit der Städtebildung aufs engste verbunden, und mit den Städten entwickelte sich auch die Vorstellung vom Fortschritt. In der Stadt war der Fortschritt erfahrbar, und zugleich trieb die Stadt den Fortschritt voran. Die Bildung von Mitten setzte erstmals den Prozess der Beschleunigung des Lebens in Gang. Insofern haben Mitte- und Fortschrittsvorstellung keineswegs immer im Gegensatz zueinander gestanden, wie man glauben könnte, wenn man auf die politischen Ideologien des 19. Und 20. Jahrhunderts blickt.

Doppeldeutige Vokabel

Wie alle politischen Vokabeln erweist sich auch jene der "Mitte" als doppeldeutig: Einerseits ist es die "goldene Mitte", das richtige Maß, andererseits wird darunter auch das Mittelmaß, das Mediokre, das Gewöhnliche, Ordinäre, der Mangel an Mut und Innovationskraft verstanden.

Daher steht die Mitte immer in einem dialektischen Verhältnis mit den Extremen: Sie definiert sich unter dem Druck der Extreme und setzt diese somit voraus. Aber sie schöpft auch ihre Lebenskraft aus diesen Extremen. Sie ist auf die Abwechslung durch Außenseiter geradezu angewiesen, um als Maß haltende Mitte bestehen zu können. Denn erst durch die ständige Herausforderung durch die Extreme der Vor- und Nachhut, kann sich ein Zentrum bestimmen und geistig erneuern:

Von sich aus erstrahlt die Mitte also keineswegs in dem goldenen Licht, in das Horaz sie mit seiner berühmten Formel von der aurea mediocritas, der goldenen Mitte, getaucht hat. Es sind die Außenseiter und Extreme, die der Mitte ihren goldenen Schimmer verleihen. Auch parteipolitisch hält bekanntlich nichts das Wählervolk der Mitte zuverlässiger zusammen als der immer wieder erneute Blick auf die Radikalen und Extremisten mit ihren gefährlichen Absichten.

Die Angst vor der Peripherie

Ausgangs- und Schlusspunkt des Buches bildet die deutsche Debatte, die Münkler als Beispiel für alle entwickelten europäischen Demokratien wählt. Gerade in der Bundesrepublik, die sich über Jahrzehnte als eine Mittelstandsgesellschaft definiert und daraus Stabilität bezogen hat, droht heute dieser wichtige Konsens verloren zu gehen.

Die Orientierung zur Mitte ist von einer Selbstverständlichkeit zum Problem geworden: Während noch vor zwei Jahrzehnten die Mitte sozial und politisch Wirklichkeit und zugleich Norm war, überwiegen heute Bedrohungsszenarien. Obwohl der Wohlstand im Prinzip zunimmt und die gesellschaftliche Mitte bis zum Ende des 20.Jahrhunderts im Wachsen begriffen war, ist sie pessimistisch gestimmt. Denn gleichzeitig nehmen auch die sozialen Extreme zu.

Solange der Abstand zwischen den Extremen unter Kontrolle gehalten werden konnte, erwies sich die Gesellschaft als stabil. Sobald jedoch der soziale Konflikt die keineswegs homogene Mitte selbst betraf und sich die Schere zwischen einer mit Transferleistungen überlasteten oberen Mitte und einer um ihre Statussicherheit fürchtenden unteren Mitte auftat, drohte die Spaltung der Gesellschaft, die schon viele politische Theoretiker von Aristoteles bis Hegel beschrieben haben.

So kommt die Bedrohung der Mitte derzeit von innen und nicht von außen. Erst diese Spaltung der Mitte selbst lässt das zunehmende Auseinanderdriften der Extreme, das es immer schon gab, dramatisch erscheinen. Denn mit der sozialen Polarisierung nimmt auch das Innovationspotential von Gesellschaften ab:

Europa ist alt und müde geworden. Es hat die Kraft verloren, die weltwirtschaftlichen Fäden in der Hand zu behalten. Vor allem in Deutschland als dem wirtschaftlich stärksten und wichtigsten Land Europas wird diese neue Debatte über den "Verlust der Mitte" geführt. Es ist abermals eine Bedrohungsdebatte. Aber während es im frühen 20. Jahrhundert um die Frage ging, welche Gefahren die geostrategische Mittellage berge, steht heute die Angst im Vordergrund, man könne an die Peripherie geraten.

Da die stabilisierende Kraft der gesellschaftlichen Mitte sich heute nicht mehr von selbst versteht, verbirgt sich hinter der ideengeschichtlichen Suche auch die Auslotung von alternativen Modellen. Denn die Mitte muss sich neu erfinden, um weiter bestehen zu können.

Historische Rückgriffe, verständliche Prosa

Herfried Münklers theoretische Bezugnahmen erinnern an den ergiebigen historischen Ideenpool, der für Denkanstöße herangezogen werden kann. Mit Sicherheit bewegt sich der Berliner Politikwissenschaftler durch die Epochen, ohne jemals unscharf oder flach zu werden. Wie wenige Autoren versteht es Münkler, mit seinen historischen Rückgriffen immer präzise zum eigentlichen aktuellen Thema hinzuleiten.

In wohltuender Weise vermeidet er dabei gezielte Provokationen, nie steht das Erheischen von Aufmerksamkeit durch waghalsige Interpretationen im Vordergrund, sondern er präsentiert sein Thema für alle Interessierten verständlich in bester wissenschaftlicher Prosa.