"Niemand kann Schriftsteller werden"

Nachruf Harry Mulisch

Der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch ist im Alter von 83 Jahren gestorben. Der Autor des Welterfolgs "Die Entdeckung des Himmels" erlag in seinem Haus in Amsterdam einem Krebsleiden. Der 1927 in Haarlem geborene Autor war immer wieder als Anwärter auf den Literaturnobelpreis im Gespräch.

Kulturjournal, 02.11.2010

Die europäische Tragödie des 20. Jahrhunderts hat sich auch in der Familiengeschichte Harry Mulischs gespiegelt. Die jüdische Mutter des Schriftstellers zählte zu den Verfolgten des Naziregimes, seine Urgroßmutter und die Großmutter wurden im KZ Sobibor vergast. Mulischs Vater dagegen, ein aus dem Sudetenland stammender Alt-Österreicher, war als Bankmanager in Amsterdam mit der wirtschaftlichen Abwicklung der sogenannten "Endlösung" beschäftigt. Er saß nach dem Krieg drei Jahre lang als "Kollaborateur" in einem niederländischen Internierungslager.

Der Riss, der durch das vergangene Jahrhundert ging: Er ging auch durch Harry Mulischs Biografie. In "Strafsache 40/61", seinem bedeutenden Buch über den Eichmann-Prozess aus dem Jahr 1961, in den großen Romanen "Das Attentat" und "Die Entdeckung des Himmels", immer wieder hat sich Mulisch mit dem europäischen Urtrauma des Nationalsozialismus befasst.

Für ihn, hat Harry Mulisch einmal betont, sei schon als Teenager festgestanden, dass er zum Schriftsteller geboren sei: "Manchmal bekomme ich Briefe von jungen Leuten, und die fragen mich: Wie soll ich Schriftsteller werden? Dann weiß ich schon, dass sie's nicht sind. Man ist ein Schriftsteller, oder ein Maler, ein Komponist. Das kann man nicht werden. Ich habe nie Schriftsteller werden wollen. Dass ich mit 18 Jahren einem berühmten holländischen Schriftsteller einen Brief geschrieben hätte: Wie kann ich Schriftsteller werden, das ist völlig undenkbar."

In der linken Amsterdamer Szene aktiv

Erst mit seinem meisterhaften Zeitgeschichte-Thriller "Das Attentat" ist Harry Mulisch zum europäischen Star geworden, das war Mitte der 1980er Jahre, da war der Autor schon an die sechzig. In den Niederlanden hatte der geltungsbewusste Schriftsteller schon als junger Mann Furore gemacht, mit seinen Büchern natürlich - und mit seinen öffentlichen Auftritten. In den 60ern war Mulisch eines der prominentesten Mitglieder der linken Amsterdamer Provo-Szene.

"Es ist einfach der Unterschied zwischen den Niederlanden und Deutschland bzw. Österreich", meint Mulisch. "In Deutschland wird's gleich immer schwer, mit langen theoretischen Debatten und Marcuse und so. Es wird immer gleich ideologisch. Das war's hier gar nicht. Das waren keine Marxisten oder so was. Das waren junge Leute, deren Waffe die Provokation war. Darum heißt es ja 'Provo'. Das war eingebettet in eine Atmosphäre des Lachens."

Ereignisse, die nie stattgefunden haben

Witz und Ironie haben auch in den Büchern Harry Mulischs eine zentrale Rolle gespielt. Man staunt bis heute über die Leichtfüßigkeit, mit der der selbstbewusste Niederländer auch die komplexesten Stoffmassen bewältigt hat. Die literarische Arbeit falle ihm nicht sonderlich schwer, hat Mulisch in einem seiner Interviews erklärt. Schreiben sei für ihn die plastische Erinnerung an Ereignisse, die niemals stattgefunden hätten:

"Das geht ganz von selbst irgendwie, genauso, wie man sich an etwas erinnert. Wenn man sich forcieren muß, wenn man sich überlegt, wie geht's jetzt weiter, was soll jetzt der zu dem sagen, im Buch, dann ist es falsch, dann soll man aufhören. Und wenn's gut geht, weiß man einfach, was der sagt. Und dass er dazwischen einen Schluck Kaffee nimmt. Das seh ich vor mir. Obwohl's nie geschehen ist. Und wenn's so geht, geht's gut."

Gesundes Selbstbewusstsein

Den Versuchungen des Narzissmus vermochte Harry Mulisch nicht immer zu widerstehen. Die RAI hat den stets tiptop gekleideten Niederländer einmal zum "bestangezogenen Schriftsteller Europas" gewählt. Dann und wann pflegte sich Mulisch auch damit zu brüsten, daß er in seinem Leben mit mehr als 2.000 Frauen geschlafen habe.

Missgünstige Literaturkritiker, auch da gab sich Mulisch selbstbewusst, nahm er nicht weiter ernst. "Ich weiß, dass wenn einer ein Buch von mir verreißt in einem Artikel, dass er immer lieber mein Buch geschrieben hätte als diesen Artikel", meinte Mulisch. "Das weiß ich. Und dass er über mich schreibt und nicht ich über ihn... Also, die Verhältnisse sind klar. Das tröstet mich."

Es war dies ein Trost, dessen Harry Mulisch, der in der Regel auch von der Kritik hochgelobte Romancier, nicht oft bedurfte.

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