Martin Pollack über Emigration

Kaiser von Amerika

Sie wollen ins Land, haben keine Ausbildung, kein Geld, sprechen eine fremde Sprache. Sie flüchten vor wirtschaftlicher Not, vor politischer Verfolgung und hoffen in der Neuen Heimat bessere Lebensbedingungen vorzufinden. Unbemittelte Fremde sind aber überall gleichermaßen unwillkommen.

Keiner will sie aufnehmen, niemand sich mit ihnen belasten. Sie könnten Unruhe stiften, den Einheimischen den Arbeitsplatz wegnehmen oder sich zu kriminellen Banden zusammenschließen. Am besten, man lässt sie gar nicht erst ins Land. Dann bleibt ihnen nichts anderes übrig, als heimlich die Grenze zu passieren, mit Hilfe von kostspieligen, oft betrügerischen Schleppern und in die Illegalität abzutauchen. Lässt man sie ins Land, die Migranten, dann werden sie für jene Arbeiten herangezogen, die die Einheimischen nicht zu denselben Bedingungen leisten würden: Arbeiten, die schwer sind, gefährlich und schlecht bezahlt.

Woher kommen sie?

Was hier geschildert wird, ist nicht die Lebenswirklichkeit von Migranten und Asylwerbern der Gegenwart. Was hier geschildert wird, hat sich vor rund 120 Jahren zugetragen, als Juden, Slowaken, Polen und Ruthenen zu Hunderttausenden aus Galizien nach Amerika auswanderten. Der Autor, Historiker und Übersetzer Martin Pollack hat in seinem faktenreichen, historisch-literarischen Bericht die Jahre 1880 bis 1910 genau ins Auge gefasst.

Was ihn interessiert hat war nicht, wohin die Menschen emigrieren, sondern wo sie herkommen, sagt Martin Pollack im Interview. Warum emigrieren sie, wie sehen die Dörfer, die Verhältnisse aus, aus denen sie kommen und warum gehen sie weg von zuhause? Denn "Emigration war eine Fahrt ins Ungewisse".

Ein besseres Leben suchen

Galizien ist das Armenhaus der Habsburger-Monarchie. Die Gründe dafür sind vielfältig. Misswirtschaft, Korruption und Behördenwillkür führen zu einem sprichwörtlichen Massenelend. Weder Staat noch Großgrundbesitzer investieren in die Entwicklung einer nennenswerten Industrie. Die zentrale Regierung in Wien betrachtet das Kronland primär als einen Lieferanten von Rohstoffen. Armut und Arbeitslosigkeit bestimmen den Alltag der Menschen, der Prozentsatz an Analphabeten ist der höchste in der K-und-K-Monarchie.

Kein Wunder, dass die Menschen fort wollen und ein besseres Leben anderswo suchen. Und kein Wunder, dass sie den Versprechungen der im ganzen Land verstreuten Agenten und Winkelagenten Glauben schenken, die ihnen eine Überfahrt nach Amerika schmackhaft machen wollen. Diese Agenten arbeiten für die großen Schifffahrtslinien wie etwa die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft und erhalten Kopfgeld pro Passagier. Die Schifffahrtslinien wiederum verdienen an den Auswanderungswilligen, die sie in niedrigen Zwischendecks auf engstem Raum zusammenpferchen.

Die Emigranten kamen eher aus den unteren Schichten, Menschen am unteren Ende der Hierarchie, und waren leicht zu überzeugen, so Pollack, sie hatten ja von Amerika keine Ahnung, so Pollack.

Ausgebeutet von Profitgeiern

Jedes Mittel ist recht, um aus der Unwissenheit der Emigranten Profit zu schlagen. Die Preise für Bahn- und Schiffkarten sind nicht festgelegt und der Phantasie der Agenten überlassen. Alles wird berechnet: die schäbige Unterkunft vor der Abreise, eine angebliche ärztliche Untersuchung, die nur dazu dient, nachzusehen, wie viel Geld der Emigrant mit sich führt. Ein angebliches Telegraphengespräch, bei dem der "Kaiser von Amerika" gefragt wird, ob er den neuen Untertanen in seinem Reich aufnehmen will. Wenn der Telegraph läutet, so hat der Kaiser von Amerika geantwortet. Der Telegraph ist nichts anderes als ein gewöhnlicher Wecker, den der Agent aufzieht. Doch auch dafür bezahlt der Emigrant.

Die Auswanderungsbewegung aus Galizien entpuppt sich als Riesengeschäft, an dem viele mitverdienen - Schlepper, Gendarmen, Zollbeamte und Menschenhändler. Junge galizische Mädchen landen, ebenfalls gelockt mit falschen Versprechungen in Bordellen in Istanbul, Buernos Aires oder New York.

Unverhältnismäßig viele dieser Agenten waren Juden, was für Pollack ein Problem darstellte, aber: Juden waren die Gebildeteren, sagt Pollack, und haben am ehesten internationale Verbindungen gehabt. Trotzdem sei es schwierig, darüber zu schreiben, denn er fürchte den Applaus von der falschen Seite, so Pollack weiter. Juden waren aber nicht nur die Täter, sondern auch Opfer.

Prozess als Ausgangspunkt

Ein Jahr lang hat Martin Pollack für seinen detaillierten historischen Bericht recherchiert. Ausgangspunkt war ein Zufallsfund im Staatsarchiv in Krakau. Ein Zeitungsbericht über einen Prozess 1889, der im galizischen Wadowice stattgefunden hat und bei dem über 60 Auswanderungsagenten der großen Schiffsreedereien und ihre Handlanger angeklagt wurden. Die Prozessakten bzw. die Zeitungsberichte darüber erlauben es dem Autor, die sozialen Hintergründe, die Mechanismen und grotesken Auswüchse der großen Emigration aus Galizien genau zu studieren.

Im Gegensatz zu früheren Büchern, in denen Martin Pollack ein einzelnes Schicksal vor dem zeitgeschichtlichen und politischen Hintergrund aufrollt, hat er hier ein Mosaik geschaffen. Emigrationsgeschichten von Slowaken, Juden, Ukrainern und Polen stehen neben Erzählungen über Aufstieg und Fall von Agenten, Menschenhändlern und Reedern. Nahaufnahmen, die sich zu einem beeindruckenden Gesamtbild fügen, in dem Opfer wie Täter gleichermaßen ausgeleuchtet werden.

"Dass mich Täter interessieren, kommt aus meiner eigenen Biografie", so Pollack, denn er stamme aus einer Täterfamilie und dies begleite einen das ganze Leben. Auch für dieses Buch interessierte ihn: Wie kommt's, dass sich Menschen aus einer gewissen sozialen Schicht zu Tätern entwickelt haben?

Leerstellen mit Fragen gefüllt

Martin Pollacks Buch beruht auf Fakten. Ebenso wie sein Schriftstellerkollege Erich Hackl erfindet Martin Pollack nicht, er findet lieber. So werden Leerstellen in den Biografien der Protagonisten oder im historischen Verlauf nicht mit Fiktion gefüllt. Höchstens mit Fragen.

Leerstellen sind eine Herausforderung, so Pollack, sie schüren sein detektivisches Interesse. Ebenso anregend sind historische Fotografien, die der Autor leidenschaftlich sammelt. Einige davon sind im vorliegenden Band abgedruckt: ein ruthenisches Mädchen mit bloßen Füßen im Schnee, eine Familie in einem Viehwaggon, dessen Boden mit Stroh bedeckt ist, eine Frau vor dem Einwanderungsbeamten auf Ellis Island.

Er habe absichtlich die Fotos nicht mit Text versehen, so Pollack, denn sie "sind exemplarisch für die arme galizische Bevölkerung". Fotos seien auch ein Ansatzpunkt, denn "der halbe Spaß beim Schreiben ist die Recherche".

Lebendig und anschaulich beschrieben

"Der Kaiser von Amerika" ist eine düstere historische Bestandsaufnahme, die von der Schattenseite der Auswanderung erzählt. Auch in der "Neuen Heimat", in den USA, in Brasilien, werden die Emigranten ausgebeutet, beim Eisenbahnbau, in den Stahlwerken und Kohlegruben.

Dem literarischen Instinkt und journalistischen Können Martin Pollacks ist es zu verdanken, dass sich sein Buch ausgesprochen spannend liest. Und sollten die lebendig und anschaulich beschriebenen Mechanismen der historischen Migration die der Gegenwart widerspiegeln, so ist das vom Autor durchaus beabsichtigt:

"Ich glaube, dass man einfach daraus lernen kann, dass diese Phänomene, von denen wir heute so überrascht sind, dass die so neu nicht sind, dass uns ein gewisses historisches Bewusstsein ganz gut täte", findet Pollack. Amerika habe die Emigranten integriert. "Es hat die Amerikaner nicht umgebracht und es würde uns heute nicht umbringen", meint Pollack.

Service

Martin Pollack, "Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien", Zsolnay Verlag