Lieder aus dem "Herbst des Mittelalters"

Eingerauchtes Rondeau

Gegen das Ende des Mittelalter zu war man vielleicht gar nicht so schwermütig, wie Historiker annehmen. Darauf lässt zum Beispiel ein Rondeau des Komponisten Solage schließen. Es wurde für eine "Gesellschaft der Raucher" geschrieben und überrascht mit seinen exzentrisch rauchigen Harmonien.

"Gegen Ende des Mittelalters ist der Grundton des Lebens bittere Schwermut", schreibt der Kulturhistoriker Johan Huizinga in seinem Buch "Herbst des Mittelalters", das erstmals 1919 erschienen ist und unzählige Male übersetzt und neu aufgelegt wurde.

Für die Mittelalterforschung und die Methoden der Kulturgeschichtsschreibung ein überaus wichtiges, viel beachtetes Buch. Aber Huizingas These vom depressiven Grundton in der französisch-burgundischen Literatur des 15. Jahrhunderts lässt sich nicht auf die Musik übertragen.

Mehrstimmiger Codex Chantilly

Die Gesänge etwa des berühmten Codex Chantilly, eine Sammlung von mehrstimmigen Gesängen aus dem Umkreis der burgundischen Höfe, die zwischen 1350 und 1400 entstanden sind, sind keinesfalls von bitterer Schwermut geprägt. Ganz zu schweigen von den im frühen 15. Jahrhundert komponierten Gesängen von Gilles Binchois, der ab ca. 1527 Mitglied der burgundischen Hofkapelle war und den Björn Schmelzer, Leiter des Ensembles Graindelavoix, im Booklet seiner Binchois-CD sogar "Vater der Freude" nennt.

Gesellschaft der Raucher

Das als "Codex Chantilly" bekannte mittelalterliche Manuskript mit 112 teilweise sehr genau notierten, rhythmisch oft hoch komplizierten Stücken, deren Kunst als "ars subtilior" bezeichnet wird, enthält eine berühmt-berüchtigte Skurrilität: Ein Rondeau des Komponisten Solage (einer der Hauptkomponisten des Codex Chantilly) trägt den Titel "Fumeux fume parfumee". Ein Stück für drei tiefe Männerstimmen mit unglaublich waghalsiger Harmonik und maniriertem, verworrenem Klang. Dazu ein Text, der aus dem Surrealismus der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts erinnert. Schlechterdings unübersetzbar, mit etlichen Wortspielen und Anspielungen:

Fumeux fume par fume
Fumeuse speculation

("A smoker smokes through smoke
A smoky speculation”,
übersetzt v. Howard B. Garey)


Das Rondeau wurde für eine "Gesellschaft der Raucher" geschrieben, die möglicherweise schon Opium oder Haschisch kannten - eine Gruppe Pariser Bohemiens im 14. Jahrhundert, die sich angeblich um einen gewissen Jean Fumeux scharte und für ihre Exzentrik berühmt war.

Musik, die an den Nerven zehrt?

In der Aufnahme des Ensembles Organum, geleitet von Marcel Pérès, wird die verschwommene, bizarre (man ist versucht zusagen: "eingerauchte") Harmonik dieses Stücks deutlich hervorgehoben.

Ensemble Organum

Drei tiefe, eher fahl klingende, stockende Männerstimmen - wobei mit "heutigen Ohren" der Witz der Sache sicherlich nur schwer begreiflich ist. Das Ensemble P.A.N. mit seinem Countertenor Michael Collver realisiert dieses Stück mit nur einer (hohen) Gesangsstimme, die anderen Stimmen werden instrumental ausgeführt.

Ensemble P.A.N.

Das Tempo ist etwas schneller und der Klang wesentlich durchsichtiger und weniger verwirrend bis bizarr. Auch wenn Michael Collver hier mit etlichen Manierismen in der Klangfarbe seiner Stimme spielt, bleibt diese Interpretation die gefälligere - aber trotzdem noch für den ungeübten Hörer fremdartig und überraschend genug.

Service

Lancaster University - Solage and the Smokers
Ensembles Organum
New Albion Records - Ensemble P.A.N.

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