Türkischer Schnellsiedekurs in Männlichkeit

Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt

Die in Deutschland lebende Soziologin Pinar Selek wurde diese Woche in der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilt. In ihrem aktuellen Buch untersucht sie männliche Identitäten in der Türkei. Dass das Militär ein wichtiger Teil der rituellen Mannwerdung ist, zeigen 58 Erfahrungsberichte.

Umstrittener Gerichtprozess

Am Dienstag wurde die in Deutschland lebende Soziologin Pinar Selek in ihrem Heimatland in einem umstrittenen Prozess in letzter Instanz zu lebenslanger Haft verurteilt. Selek war zuvor in jahrelangen Verfahren von Istanbuler Gerichten mehrmals freigesprochen worden. Derzeit lebt sie mit einem Stipendium des PEN-Zentrums in Deutschland.

Die Richter in Ankara halten Selek für ein führendes Mitglied der verbotenen Rebellengruppe Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und verurteilten sie wegen eines mutmaßlichen Bombenanschlags im historischen Gewürzbasar in Istanbul, bei dem im Juli 1998 sieben Menschen starben.

Die damals 27 Jahre alte Selek arbeitete zur Zeit der Explosion an einer Studie über die Kurdenfrage. Sie wurde nach eigenen Angaben im Polizeiverhör gefoltert. Bis heute ist unter gerichtlich bestellten Gutachtern umstritten, ob es sich bei der Detonation in dem Basar überhaupt um eine Bombenexplosion handelte oder um einen Unfall mit einem Gasbehälter.

Zahlreiche türkische Intellektuelle setzten sich für Selek ein. Auf Deutsch erschienen ist heuer ihre Studie über männliche Identitäten in der Türkei - "Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt".

Autorität, Disziplin und Respekt

Ein Schnellsiedekurs in Männlichkeit - als solchen beschreibt Pinar Selek den Militärdienst in der Türkei. Bei der Armee würden Männer lernen, Gewalt von oben an Schwächere weiter zu geben, sich unterzuordnen, diszipliniert und gehorsam zu sein und Hierarchien nicht infrage zu stellen.

Selek verbindet feministisches mit antimilitaristischem Engagement - indem sie die Schnittmengen zwischen Patriarchat und Militär herausarbeitet. Das Militär sei ein wichtiger Teil der rituellen Mannwerdung in der Türkei - neben der Beschneidung, der Eheschließung und dem Antreten einer Arbeit. Jede Stufe wird feierlich erklommen - und als richtiger Mann gilt nur, wer alle Stadien durchlaufen hat.

Die Körper der Männer, die in den Schulen, den Arbeitsplätzen und den Religionsunterweisungen zusammen mit den Frauen diszipliniert werden, werden durch ihre Instrumentalisierung maskulinisiert; ihre Gefühle werden verschiedenen Mustern folgend zurechtgerückt und ihr Verstand wird in der Armee auf eine der Staatsauffassung angepasste Weise rationalisiert. Rationalität bedeutet, die Tatsachen zu akzeptieren und diesen Logik zu verleihen. Militaristische Rationalität stellt die Vernunft des Staats vor die des Individuums. Es steht dem Soldaten nicht zu, zu denken, zu hinterfragen oder eine Sache genau zu untersuchen. Durch Autorität generierter Respekt und durch sie generierte Furcht schalten den Verstand aus. Auf diese Weise wird gewährleistet, dass der Mann die durch Gesellschaft und Staat festgelegten Normen einhält und keinen Ungehorsam leistet, während seine produktiven Fähigkeiten gleichzeitig noch gesteigert werden.

Konzentrierte Abläufe

Für das Buch "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt." hat Pinar Selek die Erfahrungsberichte von 58 türkischen Männern aus deren Zeit beim Militär zusammengetragen. Die Männer berichten auch von Schikanen bei der Musterung inklusive der öffentlichen Begutachtung des Penis und von Prügeln durch Vorgesetze.

"Man muss die Institution Militär als Beispiel sehen. Es ist ein Ort, wo gewisse Dinge in sehr konzentrierter Form ablaufen, in primitiven, sogar ein wenig archaischen Mustern", sagt Pinar Selek. "Dennoch können wir, wenn wir ihn untersuchen, uns selbst, unsere eigenen Erfahrungen hinterfragen. Foucault führt das sehr schön vor. Beispielsweise untersucht er Gefängnisse, psychiatrische Kliniken, wo man manche Dinge in konzentrierter Form erlebt. Daraus aber leitet er sehr wichtige soziale Analysen ab. Zum Beispiel zeigt er, wie in der Gesellschaft dominierende Geisteshaltungen dort funktionieren. Meiner Meinung nach ist das Militär in dieser Hinsicht aussagekräftig."

Solidarität und Rivalität

Im Buch wechseln sich die Erfahrungsberichte der Männer mit soziologischen Analysen des Beschriebenen ab. Der Militärdienst wird als "gemeinsamer Film" der Männer skizziert, als "ein Topf, in dem alle schmoren" - unabhängig von sozialer Schicht, Herkunft und Bildung.

In maskulinen Milieus, in denen Männlichkeit ohne Unterlass geprüft, unter Beweis gestellt, verwundet, erneut geprüft und mit der eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert wird, nehmen Druck und Anspannung kein Ende. Entsprechend der Entwicklung in Internaten oder Gefängnissen werden Hierarchien auch in diesem Raum über Wettbewerbsspiele neu ausgebaut. In den gleichgeschlechtlichen sozialen Beziehungen verschwimmt Solidarität mit Rivalität. Manchmal kommt es zu einer schicksalshaften Vereinigung, manchmal kämpft man um Dominanz.

Die Codes des Patriarchats

Pinar Seleks Buch veranschaulicht den Stellenwert des Militärdienstes bei der Entstehung traditioneller Männlichkeit in der Türkei, die mit Stärke, Gewalt, Disziplin und Macht assoziiert wird. Selek lässt die Männer selbst zu Wort kommen - mehr als die Hälfte des Buches besteht aus deren persönlichen Berichten. Damit ist es kein Buch über Männer, sondern ein Buch mit Männern.

"Ich bin Feministin und kämpfe gegen das Patriarchat", erklärt Selek, "ich möchte, dass sich das patriarchale System wandelt. Damit es sich wandeln kann, müssen wir die Codes des Patriarchats verstehen. Das kann aber nicht gelingen, wenn wir uns nur mit den Problemen der Frauen auseinandersetzen. Früher assoziierte man die feministische Forschung automatisch mit Frauenforschung. Die Erfahrungen, das Wissen der Frauen waren unsichtbar. Geschichte, politische Geschichte, Wissenschaften, alles Geschriebene gründete sich immer auf die Erfahrungen von Männern. Daher ging es den Feministinnen primär darum, die weibliche Erfahrung sichtbar zu machen. Im Stadium, in dem wir uns jetzt befinden, ist dieser Prozess natürlich nicht abgeschlossen, er soll auch fortgesetzt werden. Es ist jedoch notwendig, dass wir das patriarchale System in seiner Gesamtheit analysieren."

Die Soziologin Selek schildert auf gut verständliche Weise, wie sich das Patriarchat im Ausschluss von Frauen permanent produziert. Es sei nicht statisch und in sich geschlossen, sondern entsteht, indem Macht, bestimmte Werte und Hierarchien zwischen Männern ständig neu ausgehandelt werden. Nicht zuletzt beim Militär.

Warum vom Baby zum Mörder?

Ein Grund für das Buchprojekt war die Ermordung des armenischen Journalisten und Herausgebers Hrant Dink im Jänner 2007. Dink wurde auf offener Straße in Istanbul erschossen - am helllichten Tag von einem 16-jährigen Türken. Der gestand kurz darauf reuelos die Tat. Sein Motiv: Dink habe das türkische Volk beleidigt.

"Hrant Dink war ein Friedenssymbol", erzählt die Autorin, "er wurde in der Türkei von vielen Menschen geliebt. Damals hielt Hrant Dinks Witwe, Rakel Dink, eine sehr bewegende Rede. Sie sagte, es sei nicht damit getan, den Mörder zu fassen. Wichtiger sei, zu verstehen, was aus einem Baby einen Mörder macht. Als Freunde von Hrant überlegten wir, was wir tun könnten. Wir gingen auf die Straße, organisierten andere Dinge. Aber ich hatte das Bedürfnis, darüber hinaus noch etwas zu tun. Also schrieb ich dieses Buch. Was macht aus einem Baby einen Mörder? Ich dachte, das vorliegende Buch wäre ein kleiner Beitrag zur Lösung dieser Frage."

Service

Pinar Selek, "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten", Orlanda Verlag

Orlanda Verlag - Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt.

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