Wer war Fernando Pessoa?
"Ich bin, wer alle sind"
Fernando Pessoa war er nur unter anderen, darunter Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Alvaro de Campos. Am meisten war er wohl Bernardo Soares, danach zu urteilen, dass Pessoa diesen Hilfsbuchhalter, der "Das Buch der Unruhe" schrieb, als "Halbheteronym" bezeichnete. Die anderen nannte er "Heteronyme", alle mit eigener Lebensgeschichte.
8. April 2017, 21:58
Caeiro wurde 1889 geboren und starb 1915 an Tuberkulose, Campos wurde am 15. Oktober 1890 in Tavira geboren, Reis 1887 in Porto. Sogar von ihrem Aussehen hatte Pessoa genaue Vorstellungen: "Alvaro de Campos ist groß (170 cm, zwei cm größer als ich), mager und geht etwas gebückt", Soares hingegen beschreibt er als "übertrieben nach vorn gebeugt" und seine Stimme als "matt und zaghaft, wie die von Menschen, die nichts erwarten, weil es vollkommen nutzlos ist, etwas zu erwarten".
Mindestens 70 Parallelexistenzen
Die "Heteronyme" des Fernando Pessoa gehören zu den großen Rätseln der Literaturgeschichte. Dass Schriftsteller Figuren erfinden und über diese schreiben, ist nicht ungewöhnlich, ebenso die Verwendung eines Pseudonyms. Doch Pessoas "Heteronyme" waren Dichterkollegen, die ein eigenes Werk schufen, ihn ein Leben lang begleiteten und als die er schrieb.
Das begann bereits in der Kindheit. Da gab es einen "Chevalier de Pas aus meinem sechsten Lebensjahr", wenig später einen Alexander Search. Insgesamt hat die Forschung mindestens 70 dieser Parallelexistenzen ausfindig gemacht. Schon sein eigentlicher Name kann als Omen verstanden werden, denn "Pessoa" bedeutet "Person, Maske, jemand, irgendwer".
Kurz vor seinem Tod bekannte er, "der geistige Ursprung meiner Heteronyme beruht auf meiner angeborenen, beständigen Neigung zu Entpersönlichung und Verstellung." Das überträgt sich auch auf seine "Heteronyme".
"Auch die anderen sind ich"
Der Drang, über die eigene, beschränkte Persönlichkeit hinauszugehen, wird besonders bei Alvaro de Campos deutlich. "Ich bin vielfältiger als das wildwuchernde Weltall", konstatiert er. Doch die Kehrseite dieser Überfülle ist Formlosigkeit, das eigene Ich lässt sich von anderen nicht mehr abgrenzen: "Auch die anderen sind ich."
Das bedeutet einerseits Entschränkung: "Mich erklären? Ich bin, wer alle sind (...)". Andererseits führt die Universalisierung aber auch zur Selbstzersetzung: "Ich biege alle Tage um alle Ecken aller Straßen, und wann immer ich an etwas denke, denke ich an etwas anderes." Schließlich verstrickt sich dieses Ich heillos in Widersprüche: "Ich, dieser überlegene Kümmerling ohne Seelenarchive, (...) Ich, der feierliche Erforscher belangloser Dinge."
Das Ergebnis ist mickrig, das Ich wird "Seelenschrott, verkauft nach Körpergewicht", oder verflüchtigt sich sogar noch weiter, ist nur noch "der speckige Kragen des kranken Nachhilfelehrers auf dem Weg nach Hause". Und am Ende steht die gnadenlose und doch poetisch aufgehobene Einsicht: "Ich bin nichts. Ich werde nie etwas sein. Ich kann nicht einmal etwas sein wollen. Abgesehen davon, trage ich in mir alle Träume der Welt."
Jugend in Südafrika
Pessoas äußeres Leben verlief unspektakulär. Als Sohn eines Musikkritikers wurde er am 13. Juni 1888 in Lissabon geboren. Der Vater starb früh, die Mutter heiratete den portugiesischen Konsul in Durban, Südafrika. Dort verbrachte Pessoa seine Jugend. 1905, als 17-Jähriger, kehrte er nach Lissabon zurück und verließ seine Geburtsstadt 30 Jahre lang bis zu seinem Tod am 30. November 1935 fast nie mehr.
Freilich zog er in den ersten 15 Jahren über zwanzig Mal um, während er in den letzten 15 Jahren immer im selben möblierten Zimmer wohnte. Auf Reisen schickte er seine "Heteronyme", vor allem den Schiffsingenieur Alvaro de Campos und Ricardo Reis sogar ins Exil nach Brasilien. Die in Südafrika erworbenen ausgezeichneten Englischkenntnisse nutzte Pessoa als freischaffender Handelskorrespondent. Diese wenig anspruchsvolle Tätigkeit ermöglichte ihm ein sehr bescheidenes Auskommen und ließ ihm Zeit für das, was ihn einzig interessierte: die Dichtkunst.
Seltsame Liebe
Nur einmal in seinem ganzen Leben erwischte ihn die Liebe. In einem der Handelshäuser, für die er Geschäftsbriefe schrieb, lernte er als bereits 31-Jähriger die damals 19-jährige Ophélia Queiroz kennen. In Liebesbriefen nannte er sie "Baby", "kleines Baby", aber auch "meine Schwefelsäure". Er beteuerte zwar seine Liebe, doch schon nach wenigen Monaten erlosch sein erotisches Interesse. In seinem Abschiedsbrief erklärte er: "Mein Schicksal gehorcht einem anderen Gesetz, von dessen Existenz Sie nicht wissen, und ist immer mehr dem Gehorsam gegenüber Meistern unterworfen, die nichts erlauben und nichts verzeihen."
Obwohl beide in Lissabon lebten, gab es neun Jahre lang nur sporadischen schriftlichen Kontakt zu Ophélia. Ende 1929 flackerte die Liebelei noch einmal auf, doch Pessoa verhielt sich immer sonderbarer. Er fragte zum Beispiel: "Mögen Sie mich, weil ich ich bin oder weil ich es nicht bin?" Manchmal erschien er nicht als Fernando Pessoa, sondern als Alvaro de Campos.
Wenige Wochen vor Pessoas Tod heißt es im letzten Gedicht von Campos: "Alle Liebesbriefe sind lächerlich (...) Letztlich jedoch sind nur die Leute, die niemals Liebesbriefe geschrieben haben, lächerlich."
Ophélia Queiroz heiratete erst 1938, acht Jahre nach dem Ende dieser seltsamen Liebe, und drei Jahre nach Pessoas Tod. Später sagte sie: "Er war immer nervös und völlig mit seinem Werk beschäftigt (...) Er lebte mit dem Lebensnotwendigen. Der ganze Rest war ihm gleichgültig. Er war weder ehrgeizig noch eitel."
Der "einsiedlerische Text"
Zu Lebzeiten veröffentlichte Pessoa nur ein einziges Buch: "Mensagem" (Botschaft). Er schrieb für die Truhe. Nach seinem Tod fand man in einer hölzernen Wäschetruhe über 27.000 Manuskriptseiten, deren Sichtung Jahrzehnte dauerte und immer noch nicht endgültig abgeschlossen ist. Darunter befand sich "Das Buch der Unruhe". Es wurde erst 1982, also 47 Jahre nach Pessoas Tod, veröffentlicht und gilt heute als sein Hauptwerk. Über 20 Jahre hatte er an diesem "einsiedlerischen Text", an dieser "Autobiografie ohne Fakten" gearbeitet und dabei ein "Leben in Grabeshaltung" in einer "Landschaft der Entsagung" ausgebreitet.
Der fiktive Autor Bernardo Soares ist ein trauriges Wesen. Während Alvaro de Campos Schiffsingenieur und Ricardo Reis sogar Arzt ist, übt Soares den nicht gerade illustren Beruf eines Hilfsbuchhalters aus und verkehrt in billigen Esslokalen. Hier, so erwähnt Pessoa im Vorwort, "trifft man häufig auf sonderbare Gestalten, ausdruckslose Gesichter, Abseitige des Lebens", und hier habe er Soares kennengelernt. Der schreibt über sich: "Ich habe weder Hoffnungen noch Sehnsüchte", und ergeht sich in Tiraden der Nichtigkeit: "So überflüssig alles! Wir, die Welt und beider Geheimnis", "Alles ist nichts, unser Schmerz inbegriffen".
Schauplatz dieser marginalen Existenz ist das Lissaboner Geschäftsviertel Baixa ("Unterstadt"). In den Arbeitspausen steht Soares am Fenster eines "bis ins Mark seiner Menschen erbärmlichen Büros" und beobachtet von oben das Treiben auf der Rua dos Douradores, "die für mich das ganze Leben bedeutet". Er, "ein buchführender Niemand", leidet an Überdruss und Niedergeschlagenheit, schätzt aber zugleich die Leichtigkeit der Bedeutungslosigkeit und die Wonnen des Unwichtig-seins: "Sehe ich mich als Berühmtheit, dann als einen berühmten Buchhalter." Er weiß: "Der Niedergang ist mir Bestimmung", aber das ist kein Grund zur Verzweiflung, denn "vielleicht schmeckt Ruhm nach Tod und Nichtigkeit und riecht Triumph nach Fäulnis".
Grabinschrift von Alvaro de Campos
Die Berühmtheit ereilte Soares erst lang nach dem Tod seines Schöpfers Pessoa. 1985, zum 50. Todestag, wurden dessen sterbliche Überreste feierlich ins Jerónimos-Kloster überführt, wo auch Vasco da Gama und der Nationaldichter Luis de Camoes bestattet sind. Pessoa, mittlerweile als der bedeutendste portugiesische Autor des 20. Jahrhunderts anerkannt, erhielt ein Grabmal im Kreuzgang. Auf einer schlichten Stele sind Verse von Caeiro, Reis und Campos eingelassen, aber keiner von Pessoa. Wer also war Fernando Pessoa? Das Zitat von Alvaro de Campos auf dem Grab lautet:
Nein: ich will nichts.
Ich sagte bereits, dass ich nichts will.
Kommt mir nur nicht mit Schlussfolgerungen!
Die einzige Schlussfolgerung ist der Tod.