Debütroman von Philipp Meyer
Rost
Pennsylvania im Nordosten Amerikas ist nahezu komplett deindustrialisiert. Eine Hälfte der Bevölkerung lebt von der Sozialhilfe, die andere überlebt als Jäger und Sammler. So beschreibt Philipp Meyer in seinem Debütromans "Rost" die Lage.
8. April 2017, 21:58
Sterbende Städte
"Es gibt inzwischen viele Gebiete in den USA, frühere Industriezentren im ländlichen Amerika, wo es aussieht, wie in der Dritten Welt", berichtet Philipp Meyer. "Die Arbeitslosigkeit beträgt zwischen 50 und 80 Prozent. Und die Menschen gehen in die Wälder und schießen Wild."
Eine der Folgen der Globalisierung, sagen Soziologen wie beispielsweise Ulrich Beck, sei das Einsickern der Dritten Welt in die Erste. Und umgekehrt. Armut und Reichtum eine Autostunde voneinander entfernt, im gleichen Land, und doch unüberwindbar voneinander getrennt. Solch ein bizarrer Flickenteppich breitet sich im Schatten der diversen wirtschaftlichen Krisen allmählich überall auf der Welt aus. Auch in Europa - ein Beispiel ist die Verödung einiger ländlichen Gebiete in Ostdeutschland. Und er breitet sich auch innerhalb der USA aus, zum Beispiel in Pennsylvania.
Dieser Staat am nordöstlichen Rand ist ein Glied im sogenannten Rostgürtel der Vereinigten Staaten. "Rost" heißt auch der Roman von Philipp Meyer, und er erzählt vom Elend der fiktiven Stadt Buell.
Aus eigener Erfahrung
Buell ist ein Notstandsgebiet aus verfallenden Fabriken, Wohnwagensiedlungen, Wut, Ratlosigkeit und Drogen. Hier funktioniert kaum noch etwas, selbst der Müll wird nicht mehr abgeholt. Philipp Meyer kennt solche Orte. Er ist in einer Arbeitergegend in Baltimore, Maryland, groß geworden. Als er geboren wurde, kollabierte gerade die Textilindustrie. Dann brachen die Stahlwerke zusammen. Und anschließend entließen die Werften eine Menge Leute, weil der Schiffbau automatisiert wurde. Meyer empfand die Atmosphäre kollektiver Depression mit den immer wieder neu einsetzenden Wellen von Arbeitslosigkeit lange Zeit als ganz normal.
Die Eltern des 36-Jährigen waren Künstler. Nie war Geld da, erzählt er. In seinem Viertel waren die Leute arm, Gewalt war an der Tagesordnung. Dabei war Baltimore einmal eine Stadt gewesen, auf die ihre Bewohner stolz waren. Zu einer Zeit, als die Koordinaten noch stimmten, als harte Arbeit zu einem guten Job führte, einem Job, der eine ganze Familie ernähren konnte. Aber diese Zeiten sind vorbei, sagt Phillipp Meyer. Die letzten Billig-Jobs gibt es bei Walmart. Besser bezahlte quasi nur noch im Staatsdienst. So ist es in Wirklichkeit und in Meyers Roman "Rost" ebenfalls.
Es kommt anders
Der Polizist Bud Harris ist einer der wenigen Glücklichen. Anders der 21-jährige Billy Poe, ein ehemaliger Football-Star an der Highschool, der mit seiner Mutter in einem Trailer haust. Sein Lieblingsplatz ist ein Klappstuhl, von dem aus er in den Wald blickt, dabei Dosenbier trinkt. Und wenn er Hunger hat, schießt er sich einen Hasen.
Sein Freund, der blitzgescheite Isaac English, ist der zweite Held dieser Romans. Nach dem Selbstmord seiner Mutter pflegt er den tyrannischen, kranken Vater. Aber eigentlich träumt er davon, Astrophysik in Berkley, Kalifornien, zu studieren. Der Druck, ein eigenes Leben außerhalb der Niedergangsenklave Buell zu suchen, wird größer und eines Tages klaut er das Ersparte, das der Vater im Haus versteckt hatte, und macht sich mit Billy Poe auf den Weg nach Westen.
Allerdings schon bei der ersten Rast in einer Industrieruine liefert sich Billy Poe einem besoffenen Streuner ans Messer und Isaac muss ihn retten. Zum Schluss ist der Obdachlose tot und was als Reise in eine strahlende Zukunft begonnen hatte, endet kläglich als Flucht vor der Polizei.
Durchbruch zum Fremden
Der Roman "Rost" ist all das: ein Entwicklungsroman, ein Krimi und eine Reportage über eine sterbende Stadt in Pennsylvania. "Ich empfand es als meine Aufgabe, in 'Rost' die Leute aus meinem Viertel zu beschreiben", sagt Philipp Meyer. "Für die meisten Amerikaner existieren sie nur als Klischee. Das sind die aus den Wohnwägen, die saufen, in den Knast gehen. Ich wollte sie zu wirklichen Menschen machen."
Philipp Meyer, den die "New York Times" zu einem der besten 20 Autoren unter 40 gewählt hat, also zu einem der jungen Hoffnungsträger der amerikanischen Literatur, ist davon überzeugt, dass Romane Mitgefühl und Gewissen ansprechen und dem Leser einen Durchbruch zum Fremden, zum Anderen ermöglichen.
"Diese Leute sind die Anderen. Sie sind die Unberührbaren. Dabei gehörten sie einmal der Arbeiterklasse an oder sind deren Nachkommen. Und die Arbeiterklasse war hier mal die Stütze der Gesellschaft. Heute, wenn sie irgendwo auftauchen, heißt es, schau, das sind die mit den schlechten Zähnen. Man betrachtet sie nicht mehr als Mitmenschen. Aber genau die waren meine Nachbarn", sagt Philipp Meyer.
Mitten im Romanstoff
Philipp Meyer kam 2001 von ziemlich weit her zurück nach Baltimore in die ärmliche Nachbarschaft seines Elternhauses. Und zwar von einem Job als Derivate-Händler bei UBS. Zwei Jahre lang hatte er die gigantische Bezahlung genossen. Dann warf er es hin. Er wollte unbedingt Schriftsteller werden. Die ersten beiden Romane verunglückten. Danach war das Ersparte aufgebraucht und er kehrte, beschämt und pleite, wie er erzählt, in sein Elternhaus zurück. Um zu überleben nahm er zwei Jobs an, einen als Rot-Kreuz-Fahrer und einen weiteren auf dem Bau, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er buchstäblich mitten im Stoff seines Romans stand. Szenen aus dem Amerika der weißen Verlierer.
Meyers Erfahrungsspanne, sein Gefühl für Oben und Unten, Verlierer und Gewinner der wirtschaftlichen Entwicklung, sein feines Auge für abblätternde Fassaden und aufblühende Naturlandschaften geben dem Roman eine große räumliche Tiefe. Viele der geschilderten Szenen sind in der Phantasie des Lesers perspektivisch bis nach Europa verlängerbar. Die Aussichten sind nicht gut. In den USA gingen nach den Arbeiterjobs auch die der Programmierer und Ingenieure nach Übersee. Die meisten Boeing-Ingenieure arbeiten heute in Russland, sagt Philipp Meyer.
Was tun, um die Vernichtung bezahlter Arbeit aufzuhalten? Protektionismus, empfiehlt Philipp Meyer. Protektionismus in Form von Strafgebühren für die, die Jobs ins Ausland verlagern, sonst sei außer ein paar Arbeiten wie Maurer und KFZ-Mechaniker nichts mehr übrig. Aber, wenn er solche Empfehlungen in einem Interview in Amerika ausspräche, würden garantiert alle über ihn herfallen.
Hoffnung für Amerika
Meyers sprühender Intellekt, die Welthaltigkeit und Aktualität seiner ernsten Tom-Sawyer-and-Huckleberry-Finn-Geschichte, seine saftigen Milieuschilderungen und bezaubernden Landschaftsbeschreibungen machen "Rost" zu einem der Gegenwartsromane mit starker aber unmerklicher politischer Unterströmung.
Anders als Cormac McCarthy in seinen letzten beiden Amerika-Romanen, sieht Philipp Meyer aber nicht Schwarz für sein Land. Der Staat New York, der dem benachbarten Pennsylvania 40 Jahre voraus sei, was die Deindustrialisierung angehe, sei heute ein Zentrum für organische Landwirtschaft. So etwas kann auch in Pennsylvania passieren, meint Philipp Meyer. Tatsache ist, sagt er noch, dass all diese Probleme in der einen oder anderen Weise gelöst werden, aber es dauere einfach immer zu lange.
Service
Philipp Meyer, "Rost", aus dem Amerikanischen übersetzt von Frank Heibert, Verlag Klett Cotta
Klett Cotta - Rost