Eine Zwischenbilanz der Gedenkjahre
Die gewichtigsten Mahler-Bücher
Die Ausbeute an biographischen Neuerscheinungen zum Mahler-Jahr 2010 ist bis jetzt nicht eben reich. Sogar eine Mogelpackung habe ich zur Auffettung eingeschleust. Für die Reihenfolge der kleinen Buch-Darstellungen habe ich mir überlegt, streng nach Gewicht vorzugehen. Und das meine ich im durchaus materiellen Sinn.
27. April 2017, 15:40
Am schwersten wiegt, was anlässlich der Mahler-Ausstellung im Wiener Theater Museum entstanden ist, der umfassende Katalog: "leider bleibe ich ein eingefleischter Wiener - Gustav Mahler und Wien". Die Schau ist abgespielt, das Buch bleibt bestehen und ist im Christian Brandstätter Verlag erschienen. Knapp zwei Kilogramm.
Hoch gelobte Biografie
Halb so schwer wiegt Jens Malte Fischers zurecht hoch gelobte ausführliche Mahler-Biografie "Der fremde Vertraute", die gebunden bereits 2003 bei Zsolnay verlegt wurde, daher habe ich von Mogelpackung gesprochen, weil das Buch nicht neu, aber heuer als übrigens ebenso unhandliches DTV-Taschenbuch erschienen ist. Ein Kilogramm.
Nur mehr 440 Gramm bringt Peter Wehles "Gustav Mahler - Lesebuch zum Nachschlagen" auf die Waage, erschienen bei Kremayr & Scheriau, während mit 20 Dekagramm als absolutes Leichtgewicht Otto Brusattis alphabetisch geordnetes Büchlein "Mahler x 100" oben auf liegt, Verlag: echomedia.
Teilaspekte von Mahlers Leben
Beginnen wir also mit dem großformatigen Buch und Ausstellungskatalog, herausgegeben von Reinhold Kubik und Thomas Trabitsch, das vor allem die österreichische Forschung repräsentiert. 26 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nehmen Teilaspekte von Mahlers Leben unter die Lupe.
Gabriele Kohlbauer-Fritz schildert beispielsweise Gustav Mahlers Verhältnis bzw. Nicht-Verhältnis zur Wiener Gesellschaft als seltener Steinerner Gast in den Wiener Salons. Viel lieber zog er sich zurück zu seiner Familie und zu wenigen Vertrauten - seine berühmte "splendid isolation". Doch zeigt gerade dieser Band anschaulich, wie sehr Mahler von den Strömungen der Kunst seiner Zeit, von Politik und Gesellschaft beeinflusst gewesen, Kind seiner Zeit war.
Sachlicher Ton
Emil Brix analysiert anschaulich das kreative Milieu des damaligen Wien, Werner Hanak-Lettner die Stadt der Immigranten. Rainer Bischof, Präsident der internationalen Gustav Mahler Gesellschaft, erinnert daran, dass es in Wien weder eine Mahler-Gedenkstätte noch ein Mahler-Denkmal gibt. Und dass die einzige Institution, die das geistige Erbe Mahlers verwaltet, eben die Gustav Mahler Gesellschaft, maximal noch zwei Jahre überlebensfähig ist, so wenig Subvention ist sie der Republik wert.
Ein Buch für alle, die manches gerne ganz genau wissen wollen, also liebevolle und gewissenhafte Detailarbeit schätzen, die ein sachlicher Ton genauso wenig abschreckt wie Größe und Gewicht dieses Bandes und vor allem ein Buch für all jene, die schon einiges über Mahler gelesen haben und das Gelesene erweitern und vertiefen möchten.
Kurzweilig und anschaulich
Jens Malte Fischer war schon vor sieben Jahren der Mahler-Biograph erster Wahl - sieht man gezwungenermaßen vom bedeutendsten Mahler-Forscher Henry-Louis de la Grange ab, dessen mehrbändige Mahlerbiographie bis heute nicht auf Deutsch erschienen ist.
Auf 870 Seiten erzählt Jens Malte Fischer nicht nur anschaulich, sondern erstaunlicherweise bei allem Detailreichtum kurzweilig Mahlers Leben. Er scheut sich auch nicht wie so viele auf die Musik einzugehen, Worte für das zu finden, was Mahler nur in Musik ausdrücken konnte.
Jedes Werk wird, wenn nicht wissenschaftlich analysiert, so doch genau beschrieben und erläutert. Fischer gelingt es, sich für Laien nicht nur verständlich auszudrücken, sondern auch noch das Interesse zu intensivieren. Er verliert dabei nie das Ziel aus den Augen, das lautet: Verständnis und Zugang zu Mahlers Musik zu vertiefen. Wir lernen den Menschen und sein Umfeld genau kennen, aber letztlich geht es in jedem Satz um Mahlers Musik.
Mahler fremd und vertraut
Über Mahlers 5. Symphonie schreibt er unter anderem:
Mit einem Vokabular, das einem vertraut, manchmal durchaus heimelig erscheint, spricht Mahler das Unerhörte und Unheimliche, das Bestürzende und Umstürzende aus. Das Fremde klingt vertraut, das Vertraute wirkt fremd; dies lässt sich durchaus auch auf die immer wieder rätselhaft wirkende Persönlichkeit Mahlers übertragen.
Die "FAZ" urteilte: "Ein überaus kluges, souveränes, wunderbar liebevolles Buch" - "Gustav Mahler - Der fremde Vertraute". Eine uneingeschränkte Empfehlung für alle interessierten Lesenden.
Buch als Multifunktionstool
Der Wiener Musikwissenschaftler Peter Wehle nennt seinen Mahlerband "Gustav Mahler - langsam, schleppend. Stürmisch bewegt" ein "Lesebuch zum Nachschlagen". Doch gerade das, also nachschlagen, kann man eigentlich nicht, denn es fehlt, was Jens Malte Fischers Biographie so besonders wertvoll und praktisch macht: ein Werk- und Personenregister.
Dafür gibt uns Wehle vor, was wir nachschlagen wollen sollen, in dem er 55 Seiten Glossar anhängt - von A wie Adagietto bis W wie Walter, Bruno. Er bezeichnet sein Buch deshalb auch als "Indoor-Mahler-Multifunktionstool".
Lockerer Plauderton
Die Biographie erzählt er in lockerem Plauderton auf nur 162 Seiten. Mir ist der Ton zu locker, zu feuilletonistisch und manchmal auch zu anbiedernd. Man möchte dem Autor zurufen, dass er vielleicht nicht jeden Kalauer, nicht jedes sich anbietende Wortspiel und sei's auch noch so banal aufklauben muss, aber nach und nach verliert sich seine verspielte Formulierungslust ein bisschen, aber vielleicht tritt auch nur ein gewisser Gewöhnungseffekt ein.
Der Stil täuscht darüber hinweg, dass die Biographie tadellos zusammengefasst ist. In der Kürze gelingt Peter Wehle manch einprägsames Bild, manch gute Geschichte, so dass einem nach der Lektüre wirklich vieles im Gedächtnis bleibt. Sein Ziel, ein leichtes Lesebuch für Laien zu schreiben, hat er erreicht. Nur schade, dass er glaubt, Laien mit flapsigen Formulierungen ködern und auf niedrigem Niveau abholen zu müssen.
Die berühmte Begegnung zwischen Gustav Mahler und Sigmund Freud ("ein Synonym für 'das ganze Psychozeugs'") betitelt er - es lässt sich leicht erraten - "Leiden in Leiden" (Gustav Mahler traf Siegmund Freud einen Nachmittag lang in der holländischen Stadt Leiden (früher auch: Leyden)).
Skurril anmutende Quergänge
Das bringt mich zum Leichtgewicht, dem Taschenbrevier von Otto Brusatti "Mahler x 100". Wo Wehle mit Worten spielt, spielt Brusatti mit der Zahl 100 und dem Alphabet. 100 ausgewählte Jahreszahlen zählen lapidar Aufenthaltsorte, Konzerte oder Krisen auf. 100 alphabetisch geordnete Einträge von A wie Alma bis Z wie Zemlinsky werfen Schlaglichter auf Leben, Lied und Leid Mahlers und - wie Brusatti im Geleit verspricht - "zunächst beinahe skurril anmutende Quergänge".
Unter F nennt Brusatti Freud einen "Psycho-Star". Der einzige schriftliche Kommentar Freuds über diese Begegnung stammt allerdings nicht aus einem Brief an Marie Bonaparte, sondern ist Teil eines Briefs an den Freud-Schüler Theodor Reik. Im Gegensatz zu Wehle wiederholt Brusatti auch die gerne kolportierte Geschichte, dass Mahler Freuds Honorar nie bezahlt habe. Freud schickte die Rechnung über 300 Kronen nach Mahlers Tod an dessen Anwalt, der sie auch beglichen hat.
Dieser Brief und die von Freud unterschriebene Quittung wurden 1985 bei Sotheby's um ein Vielfaches der ursprünglich von Freud geforderten Summe versteigert.
Brusattis Kurzeinträge wollen Hilfen sein, "sich dem Menschen zu nähern und in seine Musik Einlass zu finden". Vielfach handelt es sich um sehr persönliche Sichtweisen. Wer den Ö1 Moderator und Autor schätzt, wird auch dieses Mahlerbrevier zu schätzen wissen.
Zeugnisse aus erster Hand
Abschließend möchte ich dazu anregen, nicht nur sekundäre, sondern auch primäre Mahler-Literatur zu lesen. Dieses Jahr ist bei Zsolnay der Band "Gustav Mahler - Verehrter Herr College!" erschienen, bereits der zweite Mahler-Briefband, den Franz Willnauer als Herausgeber bei diesem Verlag aufbereitet.
Diese Sammlung von Mahler-Briefen an Komponisten, Dirigenten, Intendanten, die Willnauer exzellent dokumentiert und kommentiert, liest sich stellenweise spannend wie ein Reißer - beispielsweise wenn es um Mahlers Bestellung zum Hofopern-Direktor geht. Willnauers Kommentare, die der Fiktion der Briefe die so oft ganz anders geartete faktische Realität gegenüberstellen, machen diese Ausgabe zu einem großen Lesevergnügen.
Mahler und der Antisemitismus
So schreibt Mahler am 21. Dezember. 1896 an den Direktor der Budapester Oper und bittet ihn darum, sich bei der Besetzung der Stelle des 1. Kapellmeisters bzw. Direktorenpostens der Wiener Hofoper für ihn einzusetzen. Ein Umstand, der ihm dabei im Wege stehe, sei sein Judentum.
(...)Was dieß anbetrifft, so möchte ich nicht verfehlen, Ihnen mitzutheilen (falls Sie es nicht schon wissen) (,) daß ich bald nach meinem Abgang von Pesth meinen Übertritt zum Katholicismus vollzogen habe.(...)"
Kommentar Franz Willnauer: "(...)Mahler schreibt bewusst die Unwahrheit; sein Übertritt erfolgte erst zwei Monate nach Absendung dieses Briefes, am 23. Februar 1897."
In den Briefen kommen wir Mahler manchmal am nächsten, gerade in seinen Täuschungen und Tarnungen wird der Mensch sichtbarer als wenn er glaubt, sich seinem Adressaten ganz zu zeigen.
Service
Reinhold Kubik und Thomas Trabisch (Hg): "leider bleibe ich ein eingefleischter Wiener - Gustav Mahler und Wien", Christian Brandstätter Verlag
Jens Malte Fischer, "Gustav Mahler - Der fremde Vertraute", Bärenreiter/DTV TB
Peter Wehle, "Gustav Mahler - Schleppend, langsam, stürmisch bewegt", Kremayr & Scheriau
Otto Brusatti, "Mahler x 100 - Von Alma bis Zemlinsky", Echomedia
Franz Willnauer (Hg), "Verehrter Herr College! - Briefe an Komponisten, Dirigenten, Intendanten", Zsolnay