Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien
Die Casting-Gesellschaft
Casting-Shows überziehen seit einem guten Jahrzehnt die Tele-Landschaft wie Eiter eine unbehandelte Wunde. Sie gehören zu den beliebtesten und damit profitabelsten, aber auch umstrittensten Fernsehformaten. Grund genug für das vorliegende Sachbuch hinter die Kulissen der Casting-Industrie zu blicken.
8. April 2017, 21:58
Unter der Leitung des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen und des Journalisten Wolfgang Krischke haben insgesamt 25 Studentinnen und Studenten der Universität Tübingen in 26 Interviews genau dies getan.
Allgegenwärtiges Streben nach Öffentlichkeit
Wer in der Casting-Gesellschaft bekannt werden will, ist existenziell auf die öffentliche Wahrnehmung angewiesen. Sein heißt hier zuerst: medial stattfinden. Und man findet statt, indem man – je nach Format, je nach Publikum – das Gewünschte liefert.
Für medial bestens beratene Stars oder auch für Politiker scheint es nie besonders schwer gewesen zu sein, der jeweiligen Zielgruppe das Gewünschte zu liefern. Klug gewählte Symbole, geschickt platzierte Signale oder ein gerade zur rechten Zeit inszenierter Skandal – diese Techniken kennt die Medienwissenschaft schon lange.
Neu ist, - und da kommen Plattformen wie YouTube, Facebook oder Twitter ins Spiel, neu ist, dass die mediengerechte Selbstdarstellung und vermehrt auch das Werben um öffentliche Aufmerksamkeit allgegenwärtig geworden sind.
Ich trete auf, also bin ich!
Ein Motto, das früher Musiker, Schauspieler oder andere Ich-bezogene Darsteller antrieb, mobilisiert heute ein gigantisches Heer von Möchtegern-Stars. In Zeiten, in denen jeder per Mausklick alle erdenklichen Seiten seiner Persönlichkeiten der Weltöffentlichkeit präsentieren kann, gilt es erst recht, aufzufallen.
Beflügelt von der geschickt am Köcheln gehaltenen Hoffnung auf eine Karriere als Sänger, Topmodel oder Supertalent, sind Kandidatinnen und Kandidaten gerne bereit, sich vom Medium instrumentalisieren zu lassen. Das ist der Deal: willst du Star werden, musst du dich kneten lassen. Der Preis dafür kann auch sein, von einem Millionenpublikum verhöhnt oder sogar als Casting-Sieger auf Dorfkirtagen verramscht zu werden.
Demokratisierung der Prominenz
Und wen wundert´s? Die Zahl der Menschen, die schon einmal im Fernsehen aufgetreten sind, ist rapide gestiegen. Dank Casting-Shows und Reality-TV-Formaten wechseln immer mehr Menschen die Seite und werden vom Zuschauer zum Akteur, wenn auch nur einen kurzen Moment lang. Der Medienpsychologe Jo Groebel nennt das die „Demokratisierung der Prominenz“:
Prominenz durch Geburt, durch Meriten und durch Assoziation hat es immer schon gegeben, in dem Moment, wo es eine Art Massenpublikum gab. In den letzten zehn, fünfzehn Jahren hat sich der Zugang zur potenziellen Prominenz aber vervielfacht. (...) Die Produktionsmittel für Prominenz sind im Grunde jedem zugänglich geworden.
Das Ergebnis der Aufmerksamkeitsmaschine Fernsehen sind oftmals Prominente, die dafür berühmt sind, berühmt zu sein. Nur relativ wenige schaffen es, sich langfristig ins öffentliche Gedächtnis einzuprägen. Da ist dann zumeist doch etwas mit im Paket, das auch Stars liefern, die auf gewohnten Bahnen zu diesem Status gelangt sind: faszinierendes Charisma, unverwechselbare Persönlichkeit oder sogar tatsächlich beneidenswertes Können.
Der Blick der Opfer
Showstars, Topmodels, Netzexperten, Journalisten, Fernsehmanager, PR-Profis, Politiker, Schönheitschirurgen, Philosophen und viele weitere Interviewte geben durchaus spannende und oftmals überraschende Antworten zu Fragen über die drohende Totalinszenierung der Gesellschaft. Am interessantesten sind naturgemäß die Stellungnahmen der Opfer. Ihre Darstellungen zeigen die Risse in der scheinbar perfekt laufenden Glamour-Maschine Casting-Show auf.
Nehmen wir etwa Markus Grimm, der vor fünf Jahren mit seiner Retortenband „Nu Pagadi“ aus der Pro7-Casting-Show „Popstars“ als Sieger hervorging, um kurze Zeit später in der Versenkung zu verschwinden.
Wer am Ende einer Staffel gewinnt, interessiert in Wirklichkeit weder die Zuschauer – die wollen sich nur amüsieren – noch die Produktionsfirma, der es nur darum geht, mit der Sendung Geld zu machen. Und damit haben sich zwei Parteien gefunden, die zusammenpassen. Der Sieger, das Produkt, ist am Ende der unglückliche Verlierer.
Ziel der Casting-Show ist die Casting-Show
Die eigentlichen und schon vor der ersten Ausstrahlung feststehenden Gewinner sind die Produzenten, Manager, Juroren, Moderatoren und die ganze Armada an Print- und Onlinemedien, die im Kielwasser der Sender als erstes Höhe- und Tiefpunkte ausschlachtet.
Strategisch durchinszenierte Personalisierung, Emotionalisierung und Skandalisierung machen die Sendungen nicht zufällig zu idealen Themen für den Boulevard. Um tatsächliche Talentsuche geht es jedenfalls nicht. Das Auswahlverfahren ist nur ein geeignetes Setting für ein Melodram aus Hoffen und Bangen, Kampf und Intrige mit den ewig gleichen Charakteren:
Die Zicke, der Streber, die Naive, der „Underdog“, der Sensible, die Peinliche, das verkannte Genie. Die Kandidaten dienen dazu, diese Rollen zu verkörpern und außerdem ihr Privatleben als Reservoir für rührende Geschichten zur Verfügung zu stellen.
Natürlich kann man behaupten, dass der Wunsch schnell in den Star-Himmel aufzusteigen nichts Neues, sondern so alt wie das Show-Business selbst ist. Neu sind aber die verschärften Bedingungen der flexibilisierten Arbeitsgesellschaft mit befristeten und oft höchst prekären Beschäftigungsverhältnissen.
Während der Arbeitsethos noch vor gar nicht allzu langer Zeit auf Fleiß, Ausdauer und solide Ausbildung setzte und dafür Sicherheit und langfristige Karrieren versprach, muss sich der Jugendliche heute ständig neu erfinden, lernen aufzufallen und sich am Markt verkaufen können. Genau dasselbe Prinzip wie bei einer Casting-Show, meint der Philosoph Norbert Bolz: „Viele junge Leute spüren, dass es immer mehr darauf ankommt, im entscheidenden Augenblick die richtige Performance hinzulegen.“
Die Gästeliste
Die Liste der Interviewten reicht von Stars wie Anke Engelke, Dieter Wedel, Sascha Lobo oder dem unvermeidlichen Musikmanager Thomas Stein bis hin zu unvermuteten Personen wie dem Wiener TU-Professor Georg Franck oder der deutschen Politikerin Heide Simonis.
Die insgesamt 26 Gespräche geben einen äußerst vielfältigen Einblick in die aktuelle Medienwelt und zeigen wie diese unsere Gesellschaft spiegelt, aber auch prägt. Durch die zahlreichen Momentaufnahmen und Perspektiven beleuchtet das Buch das Phänomen auf besonders abwechslungsreiche Weise. Idee und Ausführung möchte man unbedingt Sachbuchautoren zu ähnlichen gesellschaftlichen Themen ans Herz legen. Wer sich längst nach andersartigen Fernsehshows sehnt, der sei zum Abschluss getröstet mit einem Zitat der Casting-Agentur-Besitzerin Imke Arntjen:
Deutschland ist nach über zwanzig Jahren Privatfernsehen fast durchgecastet; intelligente Menschen haben keine Lust auf diese Art von Fernsehen. Und auch die Dummen merken langsam, wie der Hase läuft.
Service
„Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien“, Bernhard Pörksen, Wolfgang Krischke (Hrsg.), Edition Medienpraxis
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