Sozialreportagen von Christian Schüller
Unter Außenseitern
Seit über 30 Jahren arbeitet Christian Schüller als Redakteur und Reporter beim ORF, seit 1995 als Erfinder und Leiter der Reportagereihe "Am Schauplatz". Geschichten von Menschen, die ihm in diesen 30 Jahren begegnet sind hat Christian Schüller jetzt aufgeschrieben. "Unter Außenseitern" heißt das Buch mit 15 Sozialreportagen.
8. April 2017, 21:58
Kultur aktuell, 24.12.2010
Was passiert mit Menschen, die zwangsweise ausquartiert werden? Christian Schüller wollte es wissen und ist für eine "Am Schauplatz"-Folge dem Möbelwagen einer Firma gefolgt, die auf Delogierungen spezialisiert ist. Bei einer großen Wohnanlage, einem Sozialbau aus den 1970er Jahren machte er Halt.
"Und da werde ich Zeuge von einer Delogierung, wo jemand innerhalb weniger Minuten seine ganze Existenz verloren hat", erinnert sich Schüller. "Wenige Stunden vorher hat ihn seine Frau verlassen, den Job hat er ein Jahr vorher verloren. Durch die Delogierung hat er letzten Endes auch die Kinder verloren. Das war eine Kettenreaktion von Umständen. Und während ich dort war, ungefähr 20 Minuten, wird seine Wohnung ausgeräumt bis aufs Letzte. Man hat ihm das Sofa, auf dem er gesessen ist, untern Hintern weggezogen. Und am Ende ist er mit einem Plastiksack in der Hand aus der Wohnung gegangen und hat nicht gewusst, wo er als nächstes hingehen soll."
Ohne Pathos
"Absturz auf Raten" nennt Christian Schüller diese Geschichte. Er erzählt sie präzise und nüchtern, unprätentiös und ohne Pathos. So schreibt er auch über Eva und Karl, die in der Wiener Rathaus-Toilettenanlage arbeiten und wohnen; über Erika, die das Konzentrationslager überlebt hat und nach 53 Jahren zum ersten Mal wieder in ihre Geburtsstadt Wien zurückgekehrt ist; und über einen einsamen alten Mann, der von Prostituierten gepflegt wird. Schüller berichtet von der Not der Kaffeebauern in El Salvador und vom Schicksal einer Putzfrau aus dem südrussischen Stawropol.
Christian Schüller schaut dort genauer hin, wo andere lieber wegschauen und er kann den Menschen zuhören: "Das erste ist: Wie kommt man näher mit dem Ballast, den man mitbringt - das Kamerateam und Vorurteile, die man hat. Manchmal ist man schon in einer sehr problematischen Situation als Beobachter, der ein Voyeur sein könnte oder einer werden könnte oder ein Mitbeteiligter sein könnte, der nicht sehr hilfreich ist."
Zwischen Nähe und Distanz
Ohne moralisierenden Ton kommen diese Geschichten aus und ohne falsches Mitleid, unaufdringlich und eindringlich zugleich meistert Schüller die schwierige Balance zwischen Nähe und Distanz.
"Klar versucht man, immer wieder Hilfestellung zu leisten - allein durch Tipps und dadurch, dass man in Kontakt bleibt mit den Leuten. Und manchmal ergibt sich daraus etwas für sie. Aber grundsätzlich sind wir keine Helfer. Wir kommen, um etwas zu erzählen oder zu beobachten", betont Schüller.
Armutsschere geht weiter auseinander
"Dass wir unsere Aufmerksamkeit denen schenken, die nicht die Möglichkeit haben, sich Gehör zu verschaffen, sollte selbstverständlich sein", schreibt Christian Schüller im Nachwort. Und diese Aufmerksamkeit wird heute noch mehr gebraucht als vor 30 Jahren.
"Ich bemerke, wie die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, auch psychologisch", so Schüller. "Und es hat sich ein Denken durchgesetzt, das den Egoismus und den Individualismus an erste Stelle setzt und Gedanken, die uns damals beschäftigt haben, als ich begonnen habe, von sozialer Gerechtigkeit, von Umverteilung - nämlich von oben nach unten, nicht von unten nach oben - die scheinen heute vollkommen überholt, teilweise lächerlich, unmodern. Und wer sich damit beschäftigt, scheint selber ein Außenseiter zu sein."
"Unter Außenseitern" - das ist nicht zuletzt auch ein Beitrag zu einer Debatte über die politischen Rahmenbedingungen wachsender Verarmung, über die Ausgliederung ganzer Bevölkerungsgruppen aus der Wohlstandsgesellschaft.
Service
Christian Schüller, "Unter Außenseitern", Verlag Kremayr & Scheriau