Roman von Colin McAdam
Fall
Stille Wasser sind tief und manchmal sind sie nicht zu ergründen. Noel, der Junge mit dem amblyopischen Auge, ist ein solches tiefes Wasser, dessen Oberfläche sich nicht regt, nicht aufgewühlt wird, von den täglichen Anforderungen eines jugendlichen Alltags.
8. April 2017, 21:58
Erwachsen werden sollen sie, und werden dafür eingesperrt, von ihren Eltern in eine Schule gesteckt, die sie lehren soll, bilden und zu großen Namen machen. Zu Menschen, die allseits bewundert werden, die Macht ausüben, an der Spitze stehen, Unternehmen, ja ganze Länder leiten. Ein elitäres Umfeld und große Erwartungen fordern die kindliche Seele. Verstohlene Blicke unter der Dusche zu Beginn werden zum offenen Schwanzvergleich gegen Ende. Die Älteren rauchen und trinken, schleichen sich vom Schulgelände, prügeln sich.
Ich mag die Intimität von Schmerz, das Wissen, dass es in dieser Welt von Gleichheit und institutionalisierter Erfahrung eine Empfindung geben kann, die niemand sonst versteht.
Das Leben eines Anderen
Der Autor Colin McAdam schafft in seinem zweiten Roman eine in sich abgeschlossene Welt, ein komplexes System, das präzise funktioniert, solange seine Teile funktionieren wollen. Im letzten Jahr teilen Noel und Julius sich ein Zimmer. Und Noel ist nicht mehr nur "Zwinkie", wird nicht länger von den anderen verlacht. Erstmals wird er ernstgenommen.
Im Zimmer herrschen die Vertrautheit von Frotteehosen auf nackten Schenkeln und der Geruch von Wundbenzin, das vorsichtig auf aufgescheuerte Akne getupft wird. Nachts erzählt Julius von seiner Beziehung zu Fall und Noel erhält Einblick, nach und nach, in das Leben eines Anderen, in ein Leben, das er als Außenseiter niemals führen wird.
Ich zieh ihr die Jeans aus und da ist der Fluss über ihrer Schulter. Finger unterm Pullover spüren Gänsehaut auf ihrem Rücken. Sie gehört mir. Ich küsse sie. Ich will sie beißen. Soll ich.
Postillon d'amour
Fall wohnt nicht auf dem Campus, sie darf nach Hause und auch Julius bricht immer wieder aus. Erste erotische Abenteuer finden statt, auf der Rückbank der Limousine seines Vaters, auf dem Küchentisch ihrer Mutter. Alles ist Haut und Küsse und Sex. Noel hört sich alles an.
Und wird zum Boten. Immer wieder überbringt er kleine Briefe von Julius an Fall und umgekehrt und kommt beiden näher. Drohend, drängend keimt ein Gefühl in ihm auf und er weiß, er würde dieses wunderschöne Wesen anders lieben. Tiefer gehend, nicht nur an der Fassade kratzend, bis ins Innerste. Im entscheidenden Moment aber sagt sie Noel "Ich mag dich nicht" und bringt damit etwas ins Rollen, immer weiter, immer schneller und nicht mehr aufzuhalten: Fall verschwindet.
Wenn die Liebe fehlt, sind Gedanken oder Worte blutleer, nichts flirtet und sagt Komm her. Im Auge einer Welt mit Liebe liegt ein Funkeln, und selbst wenn das Auge falsch ist, der Besitzer unaufrichtig, ist ein notwendiger Charme dabei, eine Illusion, deren Fehlen unmöglich zu ertragen ist. Als Fall verschwand, verschwand auch die Liebe, und das Leben lächelte keinem von uns mehr einladend zu.
Jedem seine Sprache
Colin McAdam lässt Noel und Julius abwechselnd erzählen und die Figuren finden jeweils eine ihnen eigene Sprache. Der egozentrische Noel formuliert präzise, liefert eine genaue Darstellung der Vorkommnisse inklusive einer sehr reflektierten Erklärung seine eigenen Gefühle und Gedanken in den jeweiligen Situationen.
Julius hingegen strebt zu den Worten hin und spricht sie aus ohne sie ein zweites Mal zu überdenken. Seine Worte sind verstümmelt, fast lautmalerisch und vermitteln ein Gefühl von Unausgegorenheit. Beide Figuren verraten sich durch ihre Sprache und die brillante Übersetzung von Eike Schönfeld überträgt diesen Effekt uneingeschränkt ins Deutsche.
Wahrscheinlich kam meine Boshaftigkeit verspätet. Dieses Trisemester hatte Dinge in mir geweckt, die ich gemäß dem Brauch des Stillen und des Lauten verborgen gehalten hatte. Manchmal schält sich der Charakter erst heraus, wenn öffentlich anerkannt ist, dass man einen Charakter haben kann. Bis zu dieser Anerkennung existiert er als beständige Keimung, als eine Art dunkle, unerbittliche Rückbildung.
"Schulbuch" für Erwachsene
Ein Kommissar versucht Noels Charakter zu ergründen, scheitert, spielt das Frage-Antwort-Spiel weiter. Alles sucht nach Fall, allen voran Julius, der darauf besteht, die Sicherheitsvorkehrungen der Schule zu verschärfen. Es kann doch nicht einfach ein Mensch... doch. Fall bleibt verschwunden und nur einer weiß, wo sie sich zuletzt aufgehalten hat. Doch dieser sagt kein Wort. Vielleicht hat er es, ob seiner bedenklichen Persönlichkeitsstruktur, selbst schon vergessen.
"Fall" ist die Geschichte eines verstörten jungen Menschen, ein "Schulbuch" für Erwachsene. Der Text hält sich nicht damit auf, Umstände zu hinterfragen und Wertungen abzugeben. Colin McAdam lässt Noel und Julius ihren Alltag unprätentiös schildern, sodass am Ende nicht das jugendliche Ausloten eigener Befindlichkeiten steht, sondern ein sprachlich bemerkenswerter Text, der wenn auch nicht immer wieder für eine zweite oder dritte Lektüre aus dem Regal geholt, doch einen Platz auf dem selbigen verdient.
Service
Colin McAdam, "Fall", Verlag Klaus Wagenbach
Verlag Klaus Wagenbach - Fall