Politische Krise dauert an
Belgien: 208 Tage ohne Regierung
Nach mehr als einem halben Jahre ohne Regierung spitzt sich die politische Krise in Belgien neuerlich zu. Der vom König eingesetzte Vermittler Johan Vande Lanotte gibt auf, weil seine Kompromissvorschläge von den größten flämischen Parteien abgelehnt wurden.
8. April 2017, 21:58
Mittagsjournal, 07.01.2011
Europäischer Rekord
208 Tage ist Belgien jetzt ohne gewählte Regierung, das ist europäischer Rekord. Die belgischen Zeitungen haben nachgerechnet, nur im Irak hat die Regierungsbildung mit 291 Tagen noch länger gedauert.
Vermittler gescheitert
Fast schien es zuletzt, als ob man im Dauerstreit zwischen niederländisch sprechenden Flamen und französisch sprechenden Wallonen einem Kompromiss deutlich näher gekommen wäre. Der ehemalige Innenminister Johan Vande Lanotte, ein flämischer Sozialdemokrat, hatte im Auftrag König Alberts II Vorschläge zur weiteren Dezentralisierung des Landes gemacht. Die Regionen sollen noch mehr Kompetenzen erhalten, so wie die für mehr Autonomie kämpfenden flämischen Politiker, das seit langem fordern. 15 Milliarden an Steuereinnahmen würden vom Bund in Richtung Regionen umgeleitet. Auch in der Arbeitsmarktpolitik und bei der Justiz war eine weitgehende Dezentralisierung geplant.
Sogar für den Disput um die Minderheitenrechte der französischsprachigen Bürger in den Randgemeinden der Hauptstadt Brüssel, hatte der Vermittler eine Lösung anzubieten: Nur in sechs ausgewählten Gemeinden mit deutlicher französischsprachiger Mehrheit, soll man auch französischsprachige Parteien wählen können, lautet der Vorschlag, obwohl das sonst im flämischen Landesteil unmöglich bleibt.
"Belgien ohne Ausweg"
Es wäre die größte Staatsreform Belgiens seit Jahrzehnten. Aber die zwei größten Parteien Flanderns, die nationalistische Neue Flämische Allianz und die Christdemokraten sagen Nein und das Entsetzen ist groß. "Belgien ohne Ausweg", titelt die Tageszeitung Le Soir. Ein anderes Blatt erscheint mit zwei fast leeren Seiten, aus Protest gegen das innenpolitische Durcheinander. Nicht nur im Ausland wird die Frage gestellt, ob Belgien nicht doch vor dem Zerfall steht? So wie das nach dem Wahlsieg der flämischen Nationalisten vor einem halben Jahr befürchtet wurde.
"Kompromiss braucht Zeit"
Ein Insider der belgischen Politik ist Karl Heinz Lamberz, Ministerpräsident der kleinen deutschsprachigen Region, und er beruhigt: "Wir sind mitten in einem dramatisierten, belgischen Kompromissfindungsprozess. Da wird es noch etwas Zeit brauchen, damit jeder der Protagonisten den Sprung in Richtung Kompromiss machen kann, ohne dabei eine Bauchlandung vor der Wählerschaft zu hinzulegen." Karl Heinz Lamberts, der Chef der deutschsprachigen Region Belgiens glaubt an weitere Verhandlungen, vielleicht mit einer neuen Parteienkonstellation.
König muss entscheiden
Die entscheidende Frage bleibt, welche Absichten, die bei den Wahlen vor einem halben Jahr zur stärksten Partei aufgestiegenen flämischen Nationalisten unter ihrem charismatischen Führer Bart De Wever, verfolgen. Sein langfristiges Ziel ist ein unabhängiges Flandern, sagt Bart De Wever, aber diese Vision wolle er auf evolutionärem Weg durch Verhandlungen erreichen, nicht durch Konfrontation. Der Ball liegt jetzt beim König, der nächste Woche entscheiden muss, wie es weitergehen soll.
Auswirkungen
Belgien hat dank seines erfahrenen Beamtenapparats unter der gegenwärtigen geschäftsführenden Regierung zwar gerade mit Erfolg die sechsmonatige EU-Präsidentschaft abgeschlossen. Aber die verfahrene innenpolitische Situation wirkt sich zunehmend auch auf die finanzielle Glaubwürdigkeit des Landes aus. Eine große Ratingagentur will den Schuldenstatus des Landes überprüfen. Wirtschaftsexperten warnen vor unangenehmen Folgen, wenn die belgischen Staatsfinanzen mangels handlungsfähiger Regierung in Verruf geraten.