Ein bürgerliches Projekt in der Wienbibliothek

Die Vermessung Wiens

Mit der "Vermessung Wiens" beschäftigt sich eine Ausstellung, die am Donnerstag, 20. Jänner 2011 in der Wienbibliothek im Rathaus eröffnet wird. Mittels Volkszählungen, Adressbüchern und Karten wird die urbane Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert gezählt und vermessen. Als zentrales Organ galt in Wien lange Zeit "Lehmann's Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger", der bis 1942 erschien.

Dieses Verzeichnis, das ab 21. Januar 2011 auch online verfügbar ist, liefert spannende Informationen über die Stadtentwicklung, aber auch über die dunkelsten Kapitel der Geschichte Wiens.

Kultur aktuell, 20.01.2011

Häuser nummeriert

Das Bestreben, alles messbar und zählbar zu machen, kennzeichnet das Zeitalter der Aufklärung, und erfasste bald auch Mensch und Gesellschaft.

Im Jahr 1770 nahm die Wiener Stadtverwaltung den ersten Anlauf, Häuser zu nummerieren, erklärt Anton Tantner vom Institut für Geschichte an der Universität Wien: "Es gab damals eine Kommission, die aus fünf bis sechs Leuten bestanden hat und von Haus zu Haus gegangen ist. Sie haben die in den Häusern lebenden Menschen in Formulare und Tabellen eingetragen und auf jedes Haus eine Nummer eingetragen."

Einfachere Besteuerung

Zweck der Übung war ursprünglich, die Rekrutierung von Männern zum Habsburgischen Militär zu erleichtern. Bald nutzte man die Informationen freilich auch zur einfacheren Besteuerung der Bürger oder zur Bekämpfung von Bettlern.

Adressbücher und Karten fanden bald zunehmende Verbreitung, und das Meldewesen wurde eingeführt. Mit dem rasanten Wachstum Wiens im 19. Jahrhundert wurden auch die Methoden der Datenerfassung verfeinert. 1859 erschien erstmals "Lehmann's Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger": Er enthielt ein Personen- und Branchenverzeichnis.

Ein bürgerliches Projekt

Jeder konnte sich umfassend über seine Nachbarn informieren oder bestimmte Personen suchen, erklärt Alfred Pfoser, Leiter der Druckschriftensammlung und stellvertretender Direktor der Wienbibliothek im Rathaus: "Der 'Lehmann' ist ein bürgerliches Projekt. Da ging's darum, dass sich die bürgerliche Gesellschaft Übersicht verschafft, Orientierung darüber bekommt, was in der Stadt los ist, welche Behörden es gibt - und Übersicht, welche Firmen und Branchen es in der Stadt gibt."

Der "Lehmann", aber auch eine Auswahl privater Adressbücher berühmter Persönlichkeiten werden in der Ausstellung "Die Vermessung Wiens" präsentiert. Seit mit der Aufzeichnung von Daten über die Bevölkerung begonnen wurde, ist auch das Thema Datenschutz aktuell. Das Misstrauen gegen den "Lehmann" war groß: In Zeiten des Absolutismus sahen viele darin ein Projekt des autoritären Staates, und auch später war das allgemein zugängliche Verzeichnis ein Stein des Anstoßes.

Kraus ließ Eintrag löschen

"Karl Kraus hat darauf bestanden, dass er aus dem Lehmann-Adressbuch gelöscht wird, weil er seine Eintragung als indezent gesehen hat mit unglaublichen Folgen: Jeder konnte ihm Prospekte und Briefe schicken. Um sich davor zu schützen, hat er darauf bestanden, dass er im 'Lehmann' gelöscht wird", erzählt Pfoser.

Auch über die Jahre 1938 bis zu seiner Einstellung 1942 informiert der Lehmann, der ab nun auch im Internet abrufbar ist. So lässt sich etwa recherchieren, wer bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten an einer bestimmten Wiener Adresse gewohnt hat und von dort möglicherweise vertrieben oder verschleppt wurde, erklärt Pfoser: "65 Prozent aller Ärzte wurde die Lizenz zum Ordinieren entzogen. Wie hat eine Stadt so funktionieren können? Es tauchen Vermutungen auf, dass das eigentlich ein unglaubliches Chaos war."

Publikationen und Konferenz

Über die Vermessung Wiens erscheinen nun auch zwei neue Publikationen; wer sich weiter in das Thema vertiefen will, hat bei einer Konferenz mit dem Titel "Mapping Vienna" Gelegenheit dazu: Sie findet am Donnerstag und Freitag im Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien statt.

Textfassung: Red.

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