Experte gegen Dämonisierung der Bewegung

Muslimbrüder "friedlich, bürgerlich"

Die ersten Gespräche zwischen Regierung und Oppositionsgruppen am Sonntag haben kaum mehr als einen Fahrplan für weitere Gespräche gebracht. Historisch ist die Teilnahme der Muslimbrüder, die in Ägypten seit Jahrzehnten offiziell verboten sind. Ein Kenner der Szene versucht, Vorurteile auszuräumen.

Interview auf dem Tahrir-Platz in Kairo

Die Einladung an den runden Tisch der Regierung kommt einer Anerkennung gleich, der die Muslimbruderschaft wohl nicht widerstehen konnte. Im Westen wird die islamistische Oppositionsbewegung mit Argwohn betrachtet. Wie berechtigt ist die Angst? Barbara Ladinser hat für das Morgenjournal mit einem Kenner der Szene gesprochen.

"Friedlich und bürgerlich"

Ibrahin Al-Hodaiby ist Politikwissenschaftler und Islamexperte. Seit Beginn der ägyptischen Revolte vor zwei Wochen war er fast jeden Tag auf der Straße, erzählt er. Bis vor zwei Jahren war er Mitglied bei den Muslimbrüdern und trat aus - warum, möchte er nicht diskutieren. Dass die Muslimbrüder die Bewegung auf dem Platz anführten, sei jedenfalls Nonsens: "Das Regime spielt diese Karte seit langem, bei Wahlen und bei jeder Gelegenheit, aber hier ist es für jeden sichtbar: Diese Revolution ist zweierlei, friedlich und bürgerlich. Friedlich im Sinn, dass sie auf keine Art gewalttätig ist, außer zur Verteidigung, und bürgerlich in dem Sinn, dass sie weder militärisch noch religiös ist."

Kein "islamisches Erwachen"

Die Erklärung des iranischen Revolutionsführers Khamenei, die Revolte in Ägypten sei ein islamisches Erwachen, sei für viele eine Provokation und unwillkommene Einmischung gewesen, sagt Al-Houdaiby, und es habe auch dagegen Sprechchöre gegeben. "Es spielt nur dem Regime in die Hände, das behauptet, man habe es mit einer islamischen Revolution zu tun. Die Menschen hier sind unterschiedlichster sozioökonomischer Herkunft, aus unterschiedlichsten ideologischen Richtungen und Gesellschaftsschichten."

"Keine islamische Rhetorik"

Weder die Muslimbrüder noch irgendeine andere Organisation werde imstande sein, sich dieser Revolution zu bemächtigen, die eine Revolution des Volkes sei, sagt Al-Houdaiby. Der Vergleich mit der islamischen Revolution im Iran sei falsch. "Die iranische Revolution war von Anfang an ideologisch und hatte einen religiösen Führer. Hier ist nichts ideologisch, es gibt konkrete Forderungen, Mubaraks Abtritt, Bürger- und Freiheitsrechte, demokratische Institutionen, usw. Das sind die Forderungen hier, und keine islamische Rhetorik!"

"Keine Veränderung zu Israel"

Und die Muslimbrüder? Wollen die einen Islamischen Staat? Und was wird aus dem Friedensvertrag mit Israel? Al-Houdaiby: "Erstens glaube ich nicht, dass die Muslimbrüder einen islamischen Staat wollen, aber noch viel wichtiger: Sie sind nicht in der Position, zu diktieren, was sie wollen. Das kann man nicht oft genug betonen. Und was Israel betrifft: Vieles wird sich ändern, aber im Verhältnis zu Israel wird es keine radikalen Veränderungen geben."

Nicht mehr als 10 Prozent?

Aber wenn Wahlen der Muslimbruderschaft die Mehrheit beschaffen? "Sie werden keine Mehrheit haben", sagt Houdaiby fast genervt, "sie sind hier unter uns nicht mehr als zehn Prozent. Das ist meine Schätzung, ich war lange genug Mitglied der Bruderschaft, ich kann ihre Leute erkennen." Schätzungen helfen vorerst wenig, verlässliche Zahlen gibt es nicht. Das höchste, das die Bruderschaft bisher in Wahlen gewannen, waren 20 Prozent vor sechs Jahren. Ihm selbst gefalle vieles an der Bruderschaft nicht, sagt El-Houdaiby. Er weigert sich aber, auszuführen, was. Es sei nicht der Moment, das zu diskutieren. Aber wünscht er sie ähnlich wie die türkische AKP? El-Houdaiby: "Die AKP ist ein gutes Modell, und die Bruderschaft könnte dorthin gedrängt werden, aber im Moment sind sie nicht die AKP."

Integration und Mäßigung

Die Mehrheit der Leute an der Spitze, versichert El-Houdaiby, sei pragmatisch und wolle politische Teilnahme: "Sie bewegen sich deshalb auf Integration und Mäßigung zu, und nicht auf Vorherrschaft oder Monopolisierung des islamischen oder nationalistischen Diskurses."

Gestern Sonntag wurde bekannt, dass die Muslimbrüder keinen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl stellen werden und keinen Sitz in der Übergangsregierung beanspruchen. Das sei gut, urteilt der Politologe, Al-Houdaiby. Die Gerüchte einer islamistischen Natur der Revolte würden damit widerlegt.

Platz bleibt besetzt

In Kairo hat die Armee unterdessen die Versuche eingestellt, den Tahrir-Platz zu räumen. Nach Sonnenuntergang schossen die Soldaten in die Luft, um die Menschenmenge zu vertreiben. Als die Demonstranten nicht wichen, gaben die Truppen das Vorhaben auf.

Morgenjournal, 07.02.2011