Berechnungen über die Menschheit
Unser kleines Dorf
Wegen der sogenannten Datenautobahn ist das ist das globale Dorf zur Metapher für eine allgemein verständliche Welt geworden, aber beides stimmt nicht. Daten fließen nur dorthin, wo sie Profit bringen und die Dorfmetapher funktioniert nur, wenn sie wörtlich genommen wird.
8. April 2017, 21:58
High Noon
Im Westerndorf Hadleyville ist Marschall Will Kane gerade dabei, die junge Quäkerin Amy zu heiraten, als ein Bahnbeamter die Zeremonie stört, um dem Marschall ein Telegramm zu übergeben. Die Nachricht soll ihn vor einem Banditen warnen, der noch eine Rechnung zu begleichen hat und zu Mittag in Hadleyville eintreffen wird. Dem Marschall bleiben gerade ein paar Stunden, die Bewohner der Stadt auf seine Seite zu ziehen, doch die Bürger verschmelzen zu einer feigen Masse. Es ist schließlich die von Grace Kelly gespielte Quäkerin, die gegen ihre religiöse Überzeugung handelt und ihren Ehemann vor dem Mordkomplott rettet.
Mit "High Noon" gelang Fred Zinnemann 1952 eines der großen Meisterwerke des Kinos, das in der zeitgenössischen Kritik auch als Kommentar zur McCarthy-Ära gelesen wurde. Von Hadleyville ausgehend, kommt der Ich-Erzähler in dem Roman "Jakob schläft" (1997) des Schweizer Autors Klaus Merz nach Sodom und Gomorrha. Die Katastrophe überlebt nur Lot, während seine Frau für ihr Mitgefühl mit den Opfern der Katastrophe bestraft wird.
"Ja, so läuft das eben", wird der Erzähler von seinem Vater belehrt, "dass seit jeher die herzlosesten Ignoranten, die Duckmäuser und Schleimscheißer, die wahrhaft Unmenschlichen am Schluss überleben und mit heiler Haut davonkommen." Der Autor Merz sagt: "Wir müssen uns bewegen lassen hinzuschauen." Die biblische Parabel ist für Merz auch eine Anleitung zur "Domestizierung durch das Schreckliche oder vor dem Schrecklichen."
Endzeit-Szenarien
Auf bizarre Weise ist die Apokalypse längst zu einem biederen Unterhaltungsformat verkommen und selbst realistische, wenn auch auf Schätzungen beruhende, bei Weltklimakonferenzen vorgetragene Untergangsszenarien vermögen kaum noch zu berühren. Die Reaktionen pendeln zwischen einem fatalistischen "Was soll's?" und dem von Lobbyisten vorgetragenen Science-Fiction-Gehabe. Aber vielleicht sind die komplexen Systeme und abstrakten Zahlen, die die Welt funktionieren lassen oder auch irgendwann zum Stillstand bringen, nur im Maßstab und Modell eines Westerndorfes zu verstehen.
Am radikalsten hat Daniel Defoe 1719 für seinen Abenteuerroman "Robinson Crusoe" die Welt zu einem Stück für zwei Darsteller schrumpfen lassen. Allein durch Benennung kann sich der Schiffbrüchige Robinson eine Insel und einen Sklaven, also Besitz aneignen. Nach 28 Jahren entsteht durch die Ausbeutung von "Wilden" und Wildnis ein Imperium, und das war im 18. Jahrhundert durchaus Gottes Wille, also ein christliches Weltverbesserungsmodell.
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In der Tradition der Aufklärer, aber ohne die Attitüde der Weltverbesserer haben die Sozial- und Wirtschaftshistoriker Josef Nussbaumer und Andreas Exenberger für ihr Buch "Unser kleines Dorf" die Welt zu einer Gemeinde mit 100 Menschen verdichtet. Mit Statistiken und Zahlenmaterial internationaler Organisationen (OECD, UNO etc.) haben die beiden Professoren am Institut für Wirtschaftstheorie, Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte der Universität Innsbruck die Welt durchgerechnet, um sie sichtbar und verständlich zu machen.
Nach dem Schlüssel, dass das "Globo" genannte Dorf im Jahr 2000 die reale Welt mit sechs Milliarden Menschen spiegelt, verfügen zwei Personen über die Hälfte der materiellen und immateriellen Vermögenswerte. Acht Menschen verfügen über 35 Prozent, weitere 40 über 14 Prozent, das verbliebene Prozent müssen sich 50 Menschen teilen.
Düstere Zukunft
Allein diese asymmetrische Verteilung, die mit Ressourcenverbrauch und militärischen Ausgaben korreliert, birgt auf engem Raum genügend Sprengstoff. Daher verwenden fünf Bewohner/innen die Hälfte des gesamten Dorfetats für Militärausgaben, um ihre Konsumgewohnheiten zu schützen. 150 Tonnen nuklearer Sprengstoffenergie müssten reichen.
Kinderarbeit, Krankheiten, Trinkwasserknappheit, Wüstenbildung sind von einer privilegierten Perspektive aus gesehen in der realen Welt entfernte Probleme. In Globo werden jedes Jahr zwei Kinder geboren, doch alle drei Jahre kommt eines der Kinder wegen Jodmangels behindert zur Welt. Für 2050 werden für die reale Welt neun Milliarden, für Globo 150 Menschen geschätzt. "Wir müssten radikal unseren Konsumstil ändern", sagt Nussbaumer zu den Prognosen für eine düstere Zukunft.
Service
Josef Nußbaumer, Andreas Exenberger, "Unser kleines Dorf: Eine Welt mit 100 Menschen", IMT-Verlag