Für manche ein Grund zum Feiern
Rekord: Längste Regierungsbildung der Welt
Seit dem 10. Juni 2010 sind in Belgien alle Regierungsverhandlungen ergebnislos verlaufen.
Die Parteien der niederländisch sprechenden Mehrheit und der französisch sprechenden Minderheit können sich nicht einigen. Damit stellt Belgien einen neuen Rekord für die längste Regierungsbildung der Welt auf.
8. April 2017, 21:58
Belgien schlägt Irak
Im flämischen Löwen werden gratis Pommes Frites verteilt, die beliebte Nationalspeise aller Volksgruppen. In Antwerpen spielen DJs auf und im zweisprachigen Brüssel agitieren Studenten für einen gesamtbelgischen zweisprachigen Wahlkreis. Den Rekord für die längste Regierungsbildung der Welt hielt bisher der Irak mit seinem komplizierten Beziehungsgeflecht zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden. Nach 249 Tagen ergebnisloser Anläufe und Verhandlungen löst Belgien das Land an Euphrat und Tigris nun ab.
Marathonsondierungen gehen weiter
Albert II, der König der Belgier, beauftragte den Chef der französischsprachigen Liberalen, Finanzminister Reynders, die Marathonsondierungen fortzusetzen. Bei seiner Thronbesteigung vor bald 20 Jahren sprach Albert II glücklicherweise französisch, niederländisch und deutsch. Mehr schlecht als recht wird er in allen Landesteilen akzeptiert.
Unzählige Papiere, Vorschläge und Konzepte sind in den letzten acht Monaten zwischen den sieben potentiellen Regierungsparteien ausgetauscht worden. Das große Ziel der Verhandlungen ist es, die Regionen mit mehr Macht auszustatten. Viele Flamen aus dem wohlhabenden Norden aber träumen von einem eigenen, unabhängigen Staat. Der rechtskonservative Separatistenführer Bart de Wever ist ihr starker Mann. In der wirtschaftlich schwächeren, französischsprachigen Wallonie im Süden dominieren die Sozialisten, die den belgischen Sozialstaat nicht aufspalten wollen. Und rund um das übrigens strikt zweisprachige Brüssel streiten die Politiker darüber, ob in Rathäusern, die zur Region Flandern gehören, französisch gesprochen werden darf.
Sexstreik, Rasierverbot und Pommes Frites-Revolution
Während sonst in der Welt Jugendliche auf die Straße gehen, um gegen ihre Regierung zu protestieren, ist es bei uns umgekehrt, mokieren sich die Zeitungen: Die Bürger revoltieren für eine Regierung, allerdings vergeblich. Selbst die eigenwilligsten Initiativen verpuffen. Eine Künstlergruppe etwa ruft die männlichen Bürger dazu auf, sich nicht mehr zu rasieren, bis eine Regierung gebildet ist. Eine sozialistische Abgeordnete, die in die Zeitung kommen wollte, plädierte für einen Sexstreik. Der heutige Tag des neuen Rekords für die längste Regierungsbildung der Welt sollte als Tag der Pommes Frites Revolution in die Geschichte eingehen, verlangen Aktivisten der Freien Universität Brüssel - sind die Pommes Frites doch bei Flamen und Wallonen in gleicher Weise beliebt.
Luxus, den man sich leisten kann
Das größte politische Problem ist der wachsende flämische Nationalismus, mit all seinen surrealen Seiten. Wenn Nationen streiten, will sich normalerweise eine Minderheit vom Mehrheitsvolk lossagen. In Belgien ist es umgekehrt: Die niederländisch sprechenden Flamen sind die Mehrheit. Sie stellen seit Jahrzehnten die Premierminister Belgiens. Die Trennung haben sie bisher trotzdem nicht geschafft. Immerhin ist der normale Staatsbetrieb von den Vorgängen nicht betroffen, denn die abgewählte Regierung des flämischen Christdemokraten Leterme führt in Brüssel ihre Amtsgeschäfte ungerührt weiter. Im heutigen Europa wird die Währung von der Europäischen Zentralbank geschützt, die EU-Kommission sorgt für Klimaschutz und die EU-Außenpolitikchefin bereist die turbulente arabische Welt. Da können sich die Mitgliedsstaaten den Luxus endloser Verhandlungen über immer weniger bedeutende nationale Regierungen offensichtlich durchaus leisten.