Colson Whiteheads Pubertätserinnerungen
Der letzte Sommer auf Long Island
Einen Entwicklungsroman im Stile eines J. D. Salinger legt der 42-jährige Colson Whitehead mit diesem Buch vor. Nach den Erfolgen seiner vier Vorgängerromane, darunter "John Henry Days" und "Der Koloss von New York", erzählt Colson Whitehead nun eine typische "Coming-of-age"-Geschichte aus der Perspektive eines 16-Jährigen.
8. April 2017, 21:58
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Als erstes musste man die Hier-Frage klären. Wie lange bist du schon hier? Die Frage danach war reine Angeberei, obwohl jeder, bei dem man Eindruck schinden konnte, das gleiche Geschenk bekommen hatte, und zwar auf die gleiche Weise. Die gleiche in Hochglanzpapier eingeschlagene Sonne, den gleichen milden, gütigen Himmel, die gleiche Schotterstraße, auf der man sich früher oder später die Haut aufschürfte. Es war schwer, nicht zu glauben, dass es einem selbst mehr als jedem anderen gehörte. Das ging jedem so. Wir waren dankbar dafür nach einem so langen, öden Jahr in der City einfach nur in dieser Hitze zu stehen. Wie lange bist du schon hier? war das Geräusch mit dem unsere Falle zuschnappte; Jahr für Jahr ließen wir uns davon ködern, von der reinen, auf den Begriff gebrachten Freude in dem Städtchen Sag Harbor.
Die nicht so gute Gegend
Sag Harbor befindet sich im Nordosten von Long Island, jener langgestreckten Insel, die an der amerikanischen Ostküste vor Connecticut liegt. Spätestens seit der Fernsehserie "Sex and the City" kennen wir alle die "Hamptons", luxuriöse Badeorte zwei Autostunden außerhalb von New York City. Die Hamptons liegen an den weißen Sandstränden an der Südküste Long Islands und wurden im 20. Jahrhundert von reichen, weißen New Yorkern als Sommerresidenzen ausgebaut.
Im Gegensatz dazu liegt Sag Harbor nicht am offenen Atlantik, sondern an den heute recht verschmutzten Gewässern des Long Island Sound. Der Küstenort mit seinem weniger attraktiven Strand wurde in den 1940er Jahren vorwiegend von schwarzen New Yorkern besiedelt und entwickelte sich zum Sommerparadies.
Ein Paradies für Kinder
Der Autor Colson Whitehead wuchs in Harlem, im Norden von Manhattan, auf. Aus der Hitze und dem Verkehrslärm New Yorks flüchtete seine Familie jeden Sommer nach Sag Harbor, wo Whiteheads Großeltern seit den 1940er Jahren ein Sommerhaus besaßen. Während seiner frühen Kindheit, erzählt Colson Whitehead, war Sag Harbor das Paradies. Die Tage schienen unendlich lang, der Sommer dauerte ewig. Er erlebte die Geborgenheit seiner Familie und die Freiheit des Landkindes, das unbeaufsichtigt auf die Straße darf.
Später fuhr er mit seinem Fahrrad durch den kleinen Ort bis an den Strand, wo er mit seinen Freunden die Nachmittage verbrachte. Doch die Kindheitsidylle wandelte sich zum Experimentierfeld der Pubertierenden – nichts war mehr so wie früher.
Sein Bruder und er blieben sich selbst überlassen, erzählt Colson Whitehead, da seine Eltern die Woche über in New York arbeiteten. Die jungen Burschen hatten unendlich viel freie Zeit, die sie mit einer Gruppe Gleichaltriger verbrachten.
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In jenem Sommer machten wir es offiziell: Unsere Eltern kamen nur am Wochenende, was bedeutete, dass Reggie und ich das Haus für den größten Teil der Woche für uns allein hatten. "Ihr seid jetzt Männer", sagte mein Vater zu mir als ich fragte, wer sich um uns kümmern würde. "Ihr könnt auf euch selbst aufpassen." Männer? Ein Kompliment und ein Fluch: Keine Ausreden mehr, keiner, dem man die Schuld geben konnte.
Obwohl die Schilderungen von Benji, dem Ich-Erzähler des Romans, viele seiner eigenen Erfahrungen wiedergeben, will Colson Whitehead "Der letzte Sommer auf Long Island" nicht als autobiografisches Buch verstanden wissen. Selbst als ein typisches Schlüsselkind aufgewachsen, sieht er den Roman als einen Teil der Sozialgeschichte der 1980er Jahre.
Die Phänomene der 1980er
Der Roman spielt im Sommer 1985, einer Zeit, zu der ein schwarzer Präsident in den USA noch undenkbar war, die schwarze Mittelschicht jedoch schon einen bescheidenen Wohlstand genießen konnte. Neben den sozialen Veränderungen dieser Jahre beschreibt Colson Whitehead mit deutlich spürbarem Genuss die Phänomene der Zeit - Musik, Kleidung, die Helden des Alltags und vor allem die Sprache der Jugendlichen.
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Beleidigungsmäßig ging der Trend in diesem Sommer zur grammatikalischen Akrobatik, zur sonderbaren Collage. Man ließ ein beziehungsreiches Substantiv oder einen Eigennamen auf ein Pejorativum prallen und klebte die beiden mit einem Verbindungswort wie etwa "mäßig" zusammen. Ungefähr so: George Jefferson - mäßiger - Nigger.
Man konnte dem Ganzen auch ein als Räuspern fungierendes "Du Scheiß-" voranschicken. Wahre Meister des Stils hängten als Clou zuweilen noch das unsinnige "mit deinem Affenarsch" an. In etwa so: Du-Scheiß-Kunta-Kinte-mäßiger-Motherfucker... mit deinem Affenarsch.
Das Versprechen des Sommers
Colson Whitehead stammt aus einer schwarzen Mittelschichtfamilie. Seine Eltern ermöglichten ihm und seinen Geschwistern den Besuch einer weißen Privatschule. Danach studierte der 1969 geborene Autor in Harvard Creative Writing und arbeitete nach dem Abschluss des Studiums als Journalist und Fernsehkritiker für die "Village Voice". Im Jahr 1999 erschien sein erster Roman, fünf sind es inzwischen insgesamt.
Colson Whitehead erhielt unter anderem den Whiting Writer's Award und den McArthur Foundation Genius Award. 2002 wurde er für den Pulitzer-Preis nominiert.
Colson Whitehead beschreibt in seinem Buch die universelle Freiheit, das Versprechen jeden Sommers. Schade nur, dass die oben zitierte Anfangspassage des Romans sinnverzerrend ins Deutsche übersetzt wurde. Nicht zufällig spielt im Englischen Original das Wörtchen "Out" die Hauptrolle. "When did you get out" wird jedoch mit "Seit wann bist du hier?" übersetzt.
Mangelhafte Übersetzung
Warum der für die Übersetzung von Pynchons "Mason and Dixon" mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnete Nikolaus Stingl hier nicht die Option der wörtlichen Übersetzung gewählt hat und schlicht: "Seit wann bist du heraußen" an den Anfang des Textes setzte, ist nicht nachvollziehbar. Denn Whitehead beschreibt seine jugendlichen Protagonisten als Menschen mit dem Empfinden von Ex-Häftlingen nach Verbüßen einer Gefängnisstrafe.
Benji und seine Freunde erreichen nicht ein verschlafenes Feriendorf an der Nordküste von Long Island. Für sie repräsentiert Sag Harbor die Freiheit schlechthin: Ohne elterliche Aufsicht, zeitliche Beschränkungen und Schulstress können sie den Sommer über einfach nur leben, Schritte in Richtung Erwachsenenleben tun und ohne die ständige Gefahr, im New Yorker Verkehr von einem Auto erwischt zu werden, neue Erfahrungen sammeln.
Wehmütiger Abschied
Heute lebt Colson Whitehead mit seiner Familie in Brooklyn. Sag Harbor hat er gemeinsam mit seiner sechsjährigen Tochter wieder entdeckt. Und so endet der Roman auch mit einer Betrachtung des ewigen Kreislaufs, als Benji und seine Freunde das Ende des Sommers bei der alljährlichen Labour-Day-Feier zelebrieren und wehmütig Abschied nehmen - nicht nur vom Sommer und der Freiheit, auch von einem Stück ihrer Unschuld und Jugend.
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Wir waren alle da. Hier mischten wir uns unter die, die wir gewesen waren, und die, die wir sein würden. Teilten uns den Raum mit unseren Echos draußen in der Sonne. Dem schüchternen Jungen, der wir gewesen waren und von dem wir uns wegentwickelten – und den selbstbewussten oder vom Pech verfolgten Männern, die wir in unseren künftigen Sommern werden, den älteren Überlebenden, zu denen wir uns entwickeln würden, wenn wir Glück hatten, mit grauen Bartstoppeln und grünen Sonnenblenden. Die Generationen ersetzten einander und rückten nach. Jeden Sommer fand dieser Wechsel statt, während man sich demjenigen annäherte, der darauf wartete, dass man zu ihm aufschoss, und eine jüngere Version von einem selbst einen zur Seite drängte.
Service
Colson Whitehead, "Der letzte Sommer auf Long Island", aus dem Amerikanischen übersetzt von Nikolaus Stingl, Hanser Verlag
Hanser - Colson Whitehead