Colson Whiteheads Pubertätserinnerungen

Der letzte Sommer auf Long Island

Einen Entwicklungsroman im Stile eines J. D. Salinger legt der 42-jährige Colson Whitehead mit diesem Buch vor. Nach den Erfolgen seiner vier Vorgängerromane, darunter "John Henry Days" und "Der Koloss von New York", erzählt Colson Whitehead nun eine typische "Coming-of-age"-Geschichte aus der Perspektive eines 16-Jährigen.

Die nicht so gute Gegend

Sag Harbor befindet sich im Nordosten von Long Island, jener langgestreckten Insel, die an der amerikanischen Ostküste vor Connecticut liegt. Spätestens seit der Fernsehserie "Sex and the City" kennen wir alle die "Hamptons", luxuriöse Badeorte zwei Autostunden außerhalb von New York City. Die Hamptons liegen an den weißen Sandstränden an der Südküste Long Islands und wurden im 20. Jahrhundert von reichen, weißen New Yorkern als Sommerresidenzen ausgebaut.

Im Gegensatz dazu liegt Sag Harbor nicht am offenen Atlantik, sondern an den heute recht verschmutzten Gewässern des Long Island Sound. Der Küstenort mit seinem weniger attraktiven Strand wurde in den 1940er Jahren vorwiegend von schwarzen New Yorkern besiedelt und entwickelte sich zum Sommerparadies.

Ein Paradies für Kinder

Der Autor Colson Whitehead wuchs in Harlem, im Norden von Manhattan, auf. Aus der Hitze und dem Verkehrslärm New Yorks flüchtete seine Familie jeden Sommer nach Sag Harbor, wo Whiteheads Großeltern seit den 1940er Jahren ein Sommerhaus besaßen. Während seiner frühen Kindheit, erzählt Colson Whitehead, war Sag Harbor das Paradies. Die Tage schienen unendlich lang, der Sommer dauerte ewig. Er erlebte die Geborgenheit seiner Familie und die Freiheit des Landkindes, das unbeaufsichtigt auf die Straße darf.

Später fuhr er mit seinem Fahrrad durch den kleinen Ort bis an den Strand, wo er mit seinen Freunden die Nachmittage verbrachte. Doch die Kindheitsidylle wandelte sich zum Experimentierfeld der Pubertierenden – nichts war mehr so wie früher.

Sein Bruder und er blieben sich selbst überlassen, erzählt Colson Whitehead, da seine Eltern die Woche über in New York arbeiteten. Die jungen Burschen hatten unendlich viel freie Zeit, die sie mit einer Gruppe Gleichaltriger verbrachten.

Obwohl die Schilderungen von Benji, dem Ich-Erzähler des Romans, viele seiner eigenen Erfahrungen wiedergeben, will Colson Whitehead "Der letzte Sommer auf Long Island" nicht als autobiografisches Buch verstanden wissen. Selbst als ein typisches Schlüsselkind aufgewachsen, sieht er den Roman als einen Teil der Sozialgeschichte der 1980er Jahre.

Die Phänomene der 1980er

Der Roman spielt im Sommer 1985, einer Zeit, zu der ein schwarzer Präsident in den USA noch undenkbar war, die schwarze Mittelschicht jedoch schon einen bescheidenen Wohlstand genießen konnte. Neben den sozialen Veränderungen dieser Jahre beschreibt Colson Whitehead mit deutlich spürbarem Genuss die Phänomene der Zeit - Musik, Kleidung, die Helden des Alltags und vor allem die Sprache der Jugendlichen.

Das Versprechen des Sommers

Colson Whitehead stammt aus einer schwarzen Mittelschichtfamilie. Seine Eltern ermöglichten ihm und seinen Geschwistern den Besuch einer weißen Privatschule. Danach studierte der 1969 geborene Autor in Harvard Creative Writing und arbeitete nach dem Abschluss des Studiums als Journalist und Fernsehkritiker für die "Village Voice". Im Jahr 1999 erschien sein erster Roman, fünf sind es inzwischen insgesamt.

Colson Whitehead erhielt unter anderem den Whiting Writer's Award und den McArthur Foundation Genius Award. 2002 wurde er für den Pulitzer-Preis nominiert.

Colson Whitehead beschreibt in seinem Buch die universelle Freiheit, das Versprechen jeden Sommers. Schade nur, dass die oben zitierte Anfangspassage des Romans sinnverzerrend ins Deutsche übersetzt wurde. Nicht zufällig spielt im Englischen Original das Wörtchen "Out" die Hauptrolle. "When did you get out" wird jedoch mit "Seit wann bist du hier?" übersetzt.

Mangelhafte Übersetzung

Warum der für die Übersetzung von Pynchons "Mason and Dixon" mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnete Nikolaus Stingl hier nicht die Option der wörtlichen Übersetzung gewählt hat und schlicht: "Seit wann bist du heraußen" an den Anfang des Textes setzte, ist nicht nachvollziehbar. Denn Whitehead beschreibt seine jugendlichen Protagonisten als Menschen mit dem Empfinden von Ex-Häftlingen nach Verbüßen einer Gefängnisstrafe.

Benji und seine Freunde erreichen nicht ein verschlafenes Feriendorf an der Nordküste von Long Island. Für sie repräsentiert Sag Harbor die Freiheit schlechthin: Ohne elterliche Aufsicht, zeitliche Beschränkungen und Schulstress können sie den Sommer über einfach nur leben, Schritte in Richtung Erwachsenenleben tun und ohne die ständige Gefahr, im New Yorker Verkehr von einem Auto erwischt zu werden, neue Erfahrungen sammeln.

Wehmütiger Abschied

Heute lebt Colson Whitehead mit seiner Familie in Brooklyn. Sag Harbor hat er gemeinsam mit seiner sechsjährigen Tochter wieder entdeckt. Und so endet der Roman auch mit einer Betrachtung des ewigen Kreislaufs, als Benji und seine Freunde das Ende des Sommers bei der alljährlichen Labour-Day-Feier zelebrieren und wehmütig Abschied nehmen - nicht nur vom Sommer und der Freiheit, auch von einem Stück ihrer Unschuld und Jugend.

Service

Colson Whitehead, "Der letzte Sommer auf Long Island", aus dem Amerikanischen übersetzt von Nikolaus Stingl, Hanser Verlag

Hanser - Colson Whitehead