Ein moderner Prophet

Rudolf Steiner

Mit Ende Dreißig fand Rudolf Steiner zu seinem Lebensthema, der Anthroposophie, mehr als hundert Jahre später sind seine Ideen nach wie vor präsent. Miriam Gebhardt hat den Versuch unternommen, mit kritischer Distanz eine Biografie des Begründers der Waldorfschulen zu verfassen.

Komplexe Persönlichkeit

Eine objektive Biografie über Rudolf Steiner zu schreiben, sei ein schwieriges Unterfangen, erklärt Miriam Gebhardt gleich zu Beginn ihres Buches. Wie sich einem nähern, der überzeugt war, mit Toten sprechen zu können? Der meinte, ihm sei ein geheimes, fünftes Evangelium offenbart worden? Und der in relativ kurzer Zeit eine komplexe Kosmologie, eine Christologie, eine eigene Meditationsschule, eine anthroposophische Medizin, eine biodynamische Landwirtschaft und eine neue Pädagogik formulierte.

Er war ein Händler selbst gefertigter Wahrheiten.

Und diese Wahrheiten wirken bis heute nach. Wenn auch die Anthroposophische Gesellschaft mit Sitz in der Schweiz über schrumpfende Mitgliederzahlen und Überalterung klagt, so sind die Ideen Steiners heute nach wie vor präsent. Die Waldorfschulen sind wohl das bekannteste Erbe der Steiner'schen Philosophie.

Aber auch die "Demeter" Methode ist weltweit erfolgreich. 4.300 Betriebe auf allen fünf Kontinenten bauen auf 130.000 Hektar Ackerfläche biodynamisch Nahrungsmittel an. Und die Produkte von Weleda, jener Kosmetikmarke, die auf Steiners Konzept aus den 1920 Jahren zurückgeht, verkaufen sich nach wie vor ausgezeichnet.

Populärer Redner

Geboren wurde Rudolf Steiner am 27. Februar 1861 im kroatischen Kraljevec. Erst mit Ende Dreißig fand Steiner zu seinem Lebensthema, der Anthroposophie. Solange es gedauert haben mochte, bis Steiner seine Bestimmung fand, so rasend schnell wollte der Prophet danach seine Lehren unters Volk bringen. Mehr als 6.000 Vorträge soll er in seinem Leben gehalten haben. Und diese hohe Taktzahl dürfte auch Ursache für den Tod Rudolf Steiners am 30. März 1925 gewesen sein.

Angefangen hatte es während einer kräftezehrenden Tour de Force durch Deutschland, Österreich, die Schweiz, Skandinavien, Italien, Ungarn, Frankreich, die Niederlande und Großbritannien die Jahre zuvor. Zuletzt musste eine Konzertagentur Steiners Auftritte managen, so groß war der Andrang.

Viele weiße Flecken

Die Faktenlage zum Leben Rudolf Steiners sei leider sehr dünn, meint Miriam Gebhardt. Und Steiners Selbstauskünfte leider arg stilisiert, verschlossen und verschleiernd. Das beginnt schon bei den banalsten Fragen zu seinem Leben. So streiten die Experten bis heute um das präzise Geburtsdatum. 25. Februar behauptete Steiner, 27. Februar sagen die anderen.

Und warum er plötzlich freischaffender Esoteriker wurde, warum seine beiden Ehen kinderlos blieben, auf all diese Fragen gibt es keine Antworten. Also versucht Gebhardt das Leben Steiners im Lichte seiner Zeit zu beschreiben. So zeigt sie exemplarisch, dass die Geburt von Steiners Anthroposophie in eine Zeit fiel, in der das Okkulte weit verbreitet war und immer mehr Anhänger fand.

Sprungbrett Okkultismus

Im Dezember 1877 zum Beispiel nahm ein bekanntes Medium in Gegenwart der renommiertesten deutschen Wissenschaftler angeblich Kontakt mit dem Jenseits auf. Der anwesende Professor für Astrophysik war ebenso von den unerklärlichen Klopfgeräuschen fasziniert wie der Mathematiker und der Psychologe.

Zwei Jahrzehnte später, um 1900 herum, war ganz Deutschland vom Okkultismusfieber angesteckt. Spiritisten, Theosophen, Astrologen, Psychologen, Graphologen, Geisterheiler und Wahrsager versammelten sich in hunderten von okkulten Vereinen, Geschäften, Institutionen, brachten Zeitschriften heraus, boten okkultistische Dienstleistungen an.

Rudolf Steiner war also ein Kind seiner Zeit, als er zu Ende des 19. Jahrhunderts seiner Herausgeberschaft der naturwissenschaftlichen Schriften Johann Wolfgang von Goethes beendete und sich dem Okkultismus zuwendete. Er wurde Mitglied der Theosophischen Gesellschaft - auf dessen Grundgerüst er seine Anthroposophie entwickelte. Schnell wurde er - wie Gebhardt es nennt - zu einem "Guru für Glaubens- und Lebensstilfragen".

Unkonventionell, doch pragmatisch?

Bis zu seinem Tode lebte Steiner ein rasantes und unkonventionelles Leben. Ob es ihm nicht gelang, eine bürgerliche Existenz zu führen, oder ob er das nicht wollte, das ist nicht ganz klar. Zweimal heiratete er, aber beide Male aus - wie Gebhardt vermutet - opportunistischen Gründen. Seine erste Frau war acht Jahre älter und ihre Rolle sieht Gebhardt darin, dem Gelehrten ein angenehmes Leben zu ermöglichen.

In dem Moment allerdings, als er selbst seinen Lebensunterhalt als Okkultist bestreiten konnte, war die Ehe beendet.

Miriam Gebhardt beschreibt das Leben von Rudolf Steiner mit kritischer Distanz. Sie ist keine Verehrerin des Anthroposophen, macht sich aber auch nicht über dessen merkwürdige Thesen lustig. Dadurch, dass sie Steiner in das Denken seiner Zeit einbettet, versucht sie sich der kontroversiellen Persönlichkeit so objektiv wie möglich zu nähern. Was ihr vortrefflich gelungen ist.

Service

Miriam Gebhardt, "Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet", Deutsche Verlags-Anstalt

Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft
Random House - Rudolf Steiner