Rückbesinnung auf Grundsätze und Werte
Empört Euch!
Der ehemalige Résistance-Kämpfer und Diplomat Stéphane Hessel ruft in seinem Essay zum Protest gegen Ungerechtigkeit, Fremdenhass und das Finanzmonopol auf. Auch mit 93 Jahren glaubt Hessel noch an die Macht der Veränderung: Wer ein richtiger Mensch werden wolle, müsse sich engagieren.
27. April 2017, 15:40
93 Jahre. Das ist schon wie die allerletzte Etappe. Wie lange noch bis zum Ende? Die letzte Gelegenheit, die Nachkommenden teilhaben zu lassen an der Erfahrung, aus der mein politisches Engagement gewachsen ist: die Jahre des Widerstands gegen Diktatur und Besetzung - die Résistance - und ihr politisches Vermächtnis.
Mit diesen Worten beginnt Stéphane Hessel seinen Aufruf. Das mit 30 Seiten wohl dünnste Buch auf dem Markt ist ein unglaublicher Erfolg. In Frankreich wurde es eine Million Mal verkauft, mehr als der neue Roman des Bestsellerautors Michel Houellebecq.
Einfordern von Grundwerten
Hessel hatte die Streitschrift im Hinblick auf den verfrüht beginnenden Präsidentschaftswahlkampf für Frankreich geschrieben, zu seiner Überraschung fühlten sich auch Menschen in vielen Ländern angesprochen, Verlage zogen nach, Übersetzungen folgten. "Indigniez-vous! Empört Euch!" kam offenbar zur richtigen Zeit, dass aber Aufstände in derart rascher Folge losbrechen würden, wie in Tunesien, Ägypten und in einigen anderen Ländern, konnte Hessel freilich nicht ahnen.
Ihm ging es darum, die Bürger - vor allem aber die Jugend - aufzurufen, auf bestimmten Grundwerten zu beharren. Er wollte an das Programm erinnern, das er und die anderen Kämpfer der Résistance nach dem Zweiten Weltkrieg für ein freies, besseres Frankreich entworfen hatten.
Genau diese Grundsätze und Werte sind uns heute nötiger denn je. Wir alle sind aufgerufen, unsere Gesellschaft so zu bewahren, dass wir auf sie stolz sein können: nicht diese Gesellschaft der in die Illegalität Gedrängten, der Abschiebungen, des Misstrauens gegen Zuwanderer, in der die Sicherung des Alters, die Leistungen der Sozialversicherung brüchig geworden sind, in der die Reichen die Medien beherrschen - nichts davon hätten wir zugelassen, wenn wir uns dem Vermächtnis des Nationalen Widerstandsrates wirklich verpflichtet gefühlt hätten.
Handeln statt Schreiben
Der Résistance hatte sich Stéphane Hessel nach der Kapitulation Frankreichs 1941 angeschlossen. Er stammt aus einer Familie von Schriftstellern, wollte es ihnen aber nie gleich zu tun - er habe immer Handeln dem Schreiben, die Zukunft der Rückbesinnung vorgezogen. 1997 bringt er dennoch - 80-jährig - seine ungemein spannende Autobiographie heraus: In seinem Alter sei man Zeitzeuge, begründete er, warum er sich verpflichtet fühlte, seine Geschichte zu erzählen.
Die Überlebenden der Konzentrationslager, so unterschiedlich ihre Geschichten auch sind, vereint nach Hessels Ansicht eines: ein Gefühl der Verantwortung für die Welt von morgen - das wohl auch ihn dazu getrieben hat, 93-jährig noch einmal - wie er es nennt - "zur Feder zu greifen".
Man wagt uns zu sagen, der Staat könne die Kosten dieser sozialen Errungenschaften nicht mehr tragen. Aber wie kann heute das Geld dafür fehlen, da doch der Wohlstand so viel größer ist als zur Zeit der Befreiung, als Europa in Trümmern lag? Doch nur deshalb, weil die Macht des Geldes - die so sehr von der Résistance bekämpft wurde - niemals so groß, so anmaßend, so egoistisch war wie heute, mit Lobbyisten in den höchsten Rängen des Staates.
Kampfgeist statt Resignation
Was Stépahne Hessel in seinem kleinen Büchlein schreibt, ist nicht neu, die Diagnose ist bekannt. Was es aber von den vielen anderen Diagnosen unterscheidet, ist, dass "Empört Euch!" nicht ein Gefühl der Hilflosigkeit erzeugt, sondern den Kampfgeist weckt.
Der Unterschied liegt auch in der Haltung des Autors, der sein langes und oft hartes Leben immer wieder als Glück bezeichnet. Er wurde 1917 in Berlin in eine Familie von Künstlern hineingeboren, wächst mit der Avantgarde seiner Zeit auf - der Kultfilm "Jules und Jim" erzählt die Geschichte seiner Eltern.
In Frankreich 1939 eingebürgert, wird Stéphane Hessel zwei Jahre später Soldat, nach der Kapitulation flieht er aus der deutschen Kriegsgefangenschaft, schließt sich in England Charles de Gaulle an. Im Einsatz in Frankreichs Untergrund von der Gestapo verhaftet und gefoltert, entkommt er nur durch eine List der bereits angesetzten Hinrichtung in Buchenwald und kann auf dem Todesmarsch fliehen.
Verteidigung der Menschrechte
Nach Kriegsende schlägt er die Diplomatenlaufbahn ein im Dienst der UNO, wo er 1948 bei der Formulierung der "Allgemeinen Erklärung der Menschrechte" mitwirkt. Hessel ist in New York, Saigon und Algier tätig, arbeitet für die Entwicklungshilfe in Afrika, in Menschrechtsvertretungen, Missionen in Krisengebieten und engagiert sich zuletzt für die "sans papiers", die Papierlosen Einwanderer in Frankreich.
Mit "Indignez-vous!" hat Hessel ein weiteres Zeichen gesetzt: Auf seinen Wunsch hin überträgt es Michael Kogon ins Deutsche, der Sohn jenes Eugen Kogon, der ihm im KZ Buchwald das Leben rettete.
Die Botschaft eines Mandela, eines Martin Luther King ist ein Credo jenseits einer Welt ideologischer Konfrontationen und eroberungswütiger Totalitaristen. Es ist eine Botschaft der Hoffnung, dass die Gesellschaften unserer Zeit Konflikte durch gegenseitiges Verständnis in wachsamer Geduld werden lösen können - auf Grundlage unabdingbarer Rechte, deren Verletzung, von welcher Seite auch immer, unsere Empörung auslösen muss.
Service
Stéphane Hessel, "Empört Euch!", aus dem Französischen übersetzt von Michael Kogon, Ullstein Verlag
Ullstein - Empört euch!