Gorbatschows Verdienste um Demokratie und Frieden
Was blieb von Perestroika und Glasnost?
In Russland fast vergessen, im Westen gefeiert, lebt der erste und letzte sowjetische Präsident heute als Politpensionär in Moskau. Dabei hat Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow durchaus etwas zu sagen, nennt er doch die Missstände in Russland beim Namen.
8. April 2017, 21:58
Zwiespältige Erinnerungen
Wenn man an einem kalten Wintertag auf Moskaus Straßen Passanten zu Michail Gorbatschow befragt, muss man zunächst einmal damit rechnen, sie zu erschrecken. Wer war das? Ist er gestorben? Nein, Michail Sergejewitsch Gorbatschow ist ein rüstiger Greis und feiert am 2. März seinen achtzigsten Geburtstag. Übrigens nicht in London, wie vielfach kolportiert, sondern in Moskau im Kreis seiner Freunde, seiner Familie. Die aktuelle Führungsriege ist auch geladen, wird aber vermutlich nicht kommen.
Also, was fällt Ihnen zu Gorbatschow ein? Es sei ein zwiespältiges Gefühl, meint eine Passantin: "Einerseits hat er die Grenzen geöffnet - wir lebten ja hinter dem Eisernen Vorhang -, und die Leute können jetzt Geld verdienen. Das Schlechte ist, es kamen Probleme dazu, Arbeitslosigkeit und Korruption."
Eine anderer Passant ist davon überzeugt, dass Gorbatschow ein idealer Außenminister gewesen wäre: "Er hat wunderbar die Berliner Mauer niedergerissen, den Warschauer Pakt aufgelöst, alle miteinander versöhnt. Darüber hat er ein bisschen vergessen, was in der Heimat passiert."
Wer war woran schuld?
Mit dem kollektiven Gedächtnis ist das so eine Sache: Die Lieblingsphrase der jetzigen Führung, wonach sich dank Putin und Medwedew Russland wieder "von den Knien erhebt", setzt ja voraus, dass es dem Land einmal sehr schlecht gegangen ist. Das ist auch durchaus richtig.
Der Sowjetunion ist es Anfang der 1980er Jahre in der Tat sehr schlecht gegangen. Nur hat Gorbatschow von Breschnew und anderen eine nicht mehr sanierbare Ruine übernommen - und die treibende Kraft hinter der Auflösung der Sowjetunion war bekanntlich Boris Jelzin und nicht Michail Gorbatschow. So ist es seit vielen Jahren sein Schicksal, für etwas verantwortlich gemacht zu werden, was er weder verursacht noch gewollt hat.
"Auf der einen Seite war die Sowjetunion total angefault. Der niedrige Ölpreis hat das Budget beschränkt. Aber auf der anderen Seite hätte die Sowjetunion noch lange vor sich hin faulen können", analysiert die Moskauer Politologin Lilija Schewzowa die Ausgangslage. "Was kann man machen? Man kann versuchen, ein Fenster aufzumachen und die Welt zu verändern. Wie ausgerechnet Gorbatschow dazu kam, ist schwer zu sagen. Er war durch und durch dem System verhaftet, bis in die letzte Faser. Aber welches Glück: Er hat verstanden, dass man etwas ändern muss!"
Ende von Stillstand und Lügen
Auftritt Glasnost und Perestroika - Transparenz und Umbau - zwei Begriffe, die mit Michail Gorbatschow ihre Weltkarriere begonnen haben. Die Staatsbürger, so Gorbatschows These, müssen nach den Jahren des Stillstandes und der Lügen wissen, wie es um das Land steht und sie müssen ihre Kritik auch freimütig äußern können - das bedeutet Glasnost.
In einem zweiten Schritt muss dann die Kommunistische Partei die Sowjetunion den neuen Verhältnissen und Bedürfnissen anpassen - das ist dann die Perestroika.
"Gorbatschow dachte an einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz."
Sobald Gorbatschow die Führungsrolle der kommunistischen Partei geschwächt habe, sei alles auseinandergefallen, meint Lilija Schewzowa.
Weitgehender Gewaltverzicht
Gorbatschow hat einmal erzählt, dass er genau sieben Tage in seinem Beruf als Jurist gearbeitet habe. Dann sei er bereits in eine Parteifunktion gewählt worden und seit dieser Zeit sei er politisch tätig. Die Kommunistische Partei hat ihn durch und durch geprägt, er hat die gesamte Partei-Hierarchie durchlaufen.
Als das Imperium zu bröckeln begann, hat Gorbatschow - und das alleine schon macht ihn zu einem großen Politiker - auf den Einsatz von Gewalt, mit wenigen traurigen Ausnahmen im Baltikum und im Kaukasus, verzichtet.
Schewzowa weist darauf hin, dass Gorbatschow die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei hätte aufhalten können, sowie die Ereignisse in Polen und in der DDR: "Erinnern wir uns, wie ihn die Führer aus Warschau, Prag und Berlin angerufen haben, aber er hat gesagt: Jedes Volk trifft seine eigene Wahl."
Veränderung der Weltordnung
Die Würdigung mit dem Friedensnobelpreis 1990 erinnert an die zweite Lebensleistung Gorbatschows, seine Abrüstungsinitiative. Der Zwang, dem amerikanischen "Krieg der Sterne" etwas entgegenzuhalten, und ein niedriger Ölpreis sollten die Sowjetunion in den Bankrott treiben.
Die Kürzung des Rüstungsetats, der zum Schluss achtzig Prozent der sowjetischen Staatsausgaben verschlungen hat, war für Gorbatschow überlebenswichtig. Die Regale waren leer, Glasnost und Perestroika mussten Erfolge vorweisen: "Gorbatschow hat bereits 1986 - lange vor Obama - gefordert, die Welt solle auf Atomwaffen verzichten. Er hat Ronald Reagan vorgeschlagen, die atomaren Mittel- und Kurzstreckenwaffen abzuschaffen", erklärt die Politologin.
Es sei Gorbatschows Idee gewesen, den Rüstungswettlauf zu beschränken und schließlich zu kontrollieren. Damit habe er den Kalten Krieg beendet und die Weltordnung verändert, so Schewzowa: "Damit waren auch die Veränderungen in Osteuropa möglich. Die Länder konnten sich wieder Europa anschließen. Und deswegen gibt es keinen Politiker, der mit ihm zu vergleichen ist."
Abgang ohne Thronerbe
Nach dem Putsch 1991, nach dem Aufstieg Jelzins und nach der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 gab es für Gorbatschow in Russland eigentlich keinen Platz mehr. Er war übrigens auch in der jüngeren Geschichte der einzige, der den Kreml freiwillig verlassen und sich nicht schon einen geeigneten Nachfolger ausgesucht hat. Die neue russische Elite, die ihm alles verdankt, hat Gorbatschow nie akzeptiert.
Der Historiker Boris Orlow, ein Fachmann für die Geschichte der europäischen Sozialdemokratie, gehörte zu Gorbatschows engsten Beratern, als dieser vor etwa zehn Jahren versuchte, in Russland eine sozialdemokratische Partei zu gründen. Der Kreml hat dieses Projekt hintertrieben und so ist nie etwas daraus geworden.
Aber Orlow erinnert sich an einen Gorbatschow, der das Interesse an Politik auch im Alter nicht verloren hat: "Er ist ein Mensch, mit dem man leicht umgehen kann. Er ist flexibel, intelligent, er kann zuhören. Diese Fähigkeit zuzuhören, die Leute zu fesseln, das sind seine hervorstechenden Merkmale und sie machen ihn auch zu einem Politiker."
Kritik an neuer Elite
Im Kreis der Elder Statesmen, im Kreis der Nobelpreisträger, ja auch auf dem gesellschaftlichen Parkett ist Gorbatschow nun zu Hause. Er ist Mitbesitzer der "Novaja Gazeta", der Zeitung der ermordeten Anna Politkowskaja, einer kritischen Stimme im russischen Zeitungswesen.
In einem Interview zu seinem Achtzigsten nahm Gorbatschow sich kein Blatt vor den Mund. Reich und verdorben sei die neue Elite, sagt er, und kritisiert Putin als selbstherrlich und arrogant: "Ich denke, es ist nicht sehr bescheiden, wenn Putin sagt: Ja, wir setzen uns mit Dmitri Medwedew zusammen und beschließen, wer nächster Präsident wird. Das ist doch unglaublich, diese Überheblichkeit."
Auch für die Putin-Partei Geeintes Russland hat Gorbatschow nicht eben ein Kompliment parat: "Ich habe es schon mehrfach gesagt und sage es gerne wieder: Geeintes Russland erinnert mich an eine schlechte Kopie der Kommunistischen Partei."
Die Führung revanchiert sich für diese Charakterisierungen, in dem sie den zornigen alten Mann ignoriert, der nicht verbittert wirkt, müde vielleicht, langatmig und ohne Ende in seinen Erzählungen. Kein Interview, in dem er nicht an seine Frau Raissa erinnert, deren Tod er nicht verschmerzen kann. Aber wie Gorbatschow zu seinem achtzigsten Geburtstag sagte: "Ich habe schwere Zeiten erlebt. Ich bin zufrieden. Ich habe ein glückliches Leben gehabt. Ich bin glücklich."
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Novaja Gazeta (Englische Version)