Plädoyer für ein musikalisches Ökosystem

Das neue Lexikon Musik und Gender

Endlich ist es da, und doch ist es nur ein schüchterner Anfang: das Lexikon Musik und Gender, herausgegeben von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld im Bärenreiter und Metzler Verlag. Es fängt mit Rechtfertigung an, es vergleicht sich mit Ökologie: dem Rückgängigmachen der Flussbegradigung.

Beeindruckende publizistische Würdigung

Es weist auf die Vorteile und Intelligenz eines neuen musikalischen Ökosystems hin, es wirbt um Verständnis. Es weiß, dass es die langjährig in der Musikgeschichte geübten Mechanismen des Ausschlusses nicht rückgängig machen kann, es bekennt sich zu Leerstellen und Versäumnissen und gibt doch auf über 600 Seiten eine beeindruckende publizistische Würdigung der in den letzten drei Jahrzehnten geleisteten feministischen Musikologie.

Zum Beispiel: Im Eintrag "Analyse" wagt es Annegret Huber, die sexualisierte Musiktheorie des lange Zeit und vielleicht noch immer hoch geachteten Neu-Pythagoreers Hans Kayser bloßzustellen.

Bezeichnenderweise macht er sich anheischig, nicht nur musikalische Tonbezeichnungen zu erklären, sondern auch "in morphologisch-metaphysischem Sinne das Problem der Sexualität auf eine völlig neue Weise zu deuten. Doch sind seine Zahlenspiele unschwer als Fälschung zu durchschauen: Denn Kayser nimmt "die Mannesgestalt mit ausgestrecktem Arm als Einheit" und stellt die Frau im "etwas verkürztem Maßstab" gegenüber. Zwei Jahre vor Hans Kayser erklärte Joseph Riepel Tongeschlechter in vordergründig ähnlicher Weise: "Eine weibliche Tonart hat ihre Wesenheit von der männlichen her, und für sich selbst gar keine Leiter".

Keine Kategorie frei von Frauenverachtung

Im Eintrag "Exotismus" entlarvt die Herausgeberin Annette Kreutziger-Herr das auf den ersten Blick geschlechtslose und ahistorische Thema des Exotismus als hierarchischen Blick auf das Fremde, wobei die Hierarchien Eigenes und Fremdes und West and the Rest ganz ungesagt auch jene patriarchalische Kategorie der Geringschätzung der Frau einschließt.

Das exotisierte Andere im Exotismus ist im Kultursystem das Weibliche - die "imaginierte Weiblichkeit".

Umfassend und brisant

Abgesehen von der manchmal vertrackten Sprache des neuen Lexikons Musik und Gender leistet es jenen umfassenden Blick, der sich nicht von musikalischen Kategorien einschränken lässt, der sich auch nicht auf den Notentext beschränkt, der - endlich - alle gestischen und stimmlichen Äußerungen der Musikschaffenden als wahrnehmenswert erklärt. Jene genaue Beobachtung, unvoreingenommen und vorgefasste sogenannte traditionelle Arbeitsweisen verweigernd, tut der Musikwissenschaft gut; sie ist zugleich brisant: Sie eröffnet den lange gewaltvoll entstellten Blick auf bewertend-abwertende Beschreibungen des weiblichen Musikschaffens.

Das Musik und Gender Lexikon ist in seiner guten Verwendbarkeit mit Personenregister, wertvoller Bibliografie und historischer Einführung zugleich für Anfänger/innen der Musikwissenschaft eine grundlegende Bereichung wie für Langgediente, fast schon Mutlos Gewordene, eine Motivation weiterzumachen.

Service

"Lexikon Musik und Gender", herausgegeben von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld" Bärenreiter und Metzler Verlag

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