Der Westen und der Osten

Wer regiert die Welt?

Irgendwann im 15. Jahrhundert - wann genau, darüber sind sich die Geschichtswissenschaftler nicht ganz einig - begann sie, die Vorherrschaft des Westens über den Rest der Welt. Und irgendwann im 21. Jahrhundert wird sie enden. Das behauptet zumindest der britische Historiker Ian Morris in seinem Buch "Wer regiert die Welt?".

Das ist eines dieser Bücher, dessen Titel der Verlag originalgetreu hätte übersetzen müssen: "Why the West Rules - For Now" ist gleichermaßen provokant und prägnant - und er drückt genau das aus, worum es Ian Morris geht: Warum, fragt er, ist der Westen so stark? Warum beeinflusst er kulturell, politisch und ökonomisch den Rest der Welt? Und warum wird das nicht mehr lange so sein?

Trennung im Mittelalter

Nach Auffassung vieler Historiker sei die Aufteilung der Weltordnung in den rückständigen Osten und den hoch entwickelten Westen im Mittelalter erfolgt, so Morris. Gerade in den vergangenen 500 Jahren haben sich in Europa die politischen Systeme kontinuierlich weiterentwickelt, gab es einen weit über den eigenen Horizont hinausreichenden Entdecker- und Eroberungsdrang, hat sich das Denken zunehmend von der konfessionellen Reglementierung befreit, hat die industrielle Güterproduktion die Manufakturen abgelöst und ist nicht zuletzt viel Energie in die Entwicklung von Waffentechnologien geflossen, so dass militärischer Widerstand etwa bei der Kolonisierung ganzer Kontinente kein nennenswertes Problem war.

Das ist zwar alles nicht falsch, so Ian Morris, nur weiß man deshalb trotzdem nicht, warum es so gekommen ist. Er schlägt also vor, ganz an den Anfang der Menschheitsgeschichte zu gehen und sich einmal anzusehen, welche Gründe dafür ausschlaggebend waren, dass sich die Vorläufer von Homo sapiens bereits in verschiedenen Teilen der Welt unterschiedlich entwickelt haben, obwohl sie ursprünglich alle aus Afrika kamen und sich dort kaum voneinander unterschieden.

Entwicklung vom vorhandenen Material abhängig

Es hat einige hunderttausend Jahre gedauert, ehe sich Kulturen in Europa, Vorderasien, Indien und China entwickelt haben, und zwar so, dass Paläoanthropologen eine klare Trennlinie, die sogenannte Movius-Linie, ziehen können, die eine erste Definition von Ost und West zulässt. Diese Linie zieht sich - aus heutiger Sicht - von England über Nordfrankreich, Mitteleuropa durch die Ukraine zum Schwarzen Meer, von dort aus weiter zum Kaspischen Meer in Richtung Südchina, Tibet und Bangladesch.

Westlich dieser Linie haben sich die Faustkeilkulturen entwickelt, östlich davon die sogenannten Abschlagskulturen, die in Ermangelung fester Steine Materialien wie Bambus zur Werkzeugherstellung verwendeten. Effizienter waren natürlich die Faustkeile. Und so primitiv es anmutet: es sind solche Umstände, die unterschiedliche Entwicklungen in Gang setzen. Für Ian Morris macht die Geografie den wesentlichen Unterschied: das Klima und seine Veränderungen, die Materialien, die technologische Entwicklungen ermöglichen, Krankheitserreger, die an einem Ort Epidemien auslösen und an einem anderen gar nicht erst vorkommen.

Das beweist aber nur, dass es Unterschiede zwischen Europa und China etwa gibt, von Vorherrschaft kann da keine Rede sein. Jedenfalls nicht bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Gesellschaftliche Entwicklung, Lebensstandard und Bildungsniveau waren da wie dort nicht so weit voneinander entfernt.

Zu kleine Alte Welt

Die großen Veränderungen kamen mit der steigenden Mobilität. Während etwa China kein Interesse daran hatte, Gebiete in Übersee zu besetzen und auszubeuten, haben die Europäer dies extensiv betrieben - nicht zuletzt deshalb, weil sie es nach Afrika und Amerika näher hatten als die Chinesen. Den Europäern wurde die Alte Welt zu klein, nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich.

Beginn der Welthandels- und Finanzpolitik

Und auch der Handel wurde im 19. Jahrhundert weltumspannend - allerdings zum Wohle weniger. Doch gerade die Globalisierung ist es, die die Unterschiede wieder aufhebt, die China zur kommenden Supermacht werden lässt.

Die kurzzeitige Übermacht des Westens ist zugleich der Grund für seinen Machtverlust. Osten und Westen, so Morris, verschwinden und es bleibt ein Gemisch aus beidem, genauer gesagt: aus China und Amerika: Chimerica nennt er das. Ob man sich darüber freuen kann, ist eine andere Sache, denn es geht dabei überhaupt nicht um kulturellen Austausch, ebenso wenig wie um die Entwicklung demokratischer Systeme, um Armutsbekämpfung oder um eine koordinierte Umweltpolitik. Es geht ausschließlich um Welthandels- und Finanzpolitik.

Klar: Osten - Westen, dieses Gegensatzpaar ist heute schon historisch. Doch einmal mehr bedeutet diese Aufhebung nicht das Ende der Geschichte, sondern den Beginn neuer Grenzziehungen, denen bloß nicht mehr die Geografie zugrunde liegt. Ian Morris hat mit seinem Buch eindrucks- und humorvoll nachgewiesen, dass Geschichte ein im Prinzip jederzeit umkehrbarer Prozess ist, der wenig mit Planung, dafür aber viel mit Zufall und Glück zu tun hat. In Hinblick auf die Zukunft geht ihm allerdings der Witz aus:

Service

Ian Morris, "Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen beherrschen oder beherrscht werden", aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Binder, Waltraud Götting, Andreas Simon dos Santos, Campus Verlag

Campus Verlag - Wer regiert die Welt?