Klettern in der Stadt

Urban Boulder

In den letzten Jahren zieht es immer öfter sportliche Stadtbewohnerinnen und -bewohner an die Fassaden der Großstädte, um dort zu klettern. Urban Boulder nennt sich die relativ junge Disziplin des Klettersports, bei dem nicht mehr die natürlichen Felsformationen im Zentrum des Interesses stehen, sondern Häuser, Brücken, Bushaltestellen oder Glasfassaden.

Es ist eine Mauer aus großen Granitblöcken, an der Phillip Stromer hängt. Dazwischen kleine Betonfugen, in die er seine Finger und Schuhspitzen klemmt. Am Boden liegen eine Schaumstoffmatte, Rucksäcke und ein Magnesiumbeutel. Seine Freunde ziehen die Matte immer wieder genau in die Falllinie, falls er stürzen sollte. Phillip ist Architekt. Seine drahtige Statur verdankt er hauptsächlich der Flexwand, wie die Granitwand gegenüber vom Szenelokal Flex am Donaukanal genannt wird. Und an der hängt er gerade.

Es ist anstrengend, macht aber auch Spaß. Die kurzen Klettereien im Stadtraum dienen nicht nur der Vorbereitung auf echte Klettertouren in den Bergen, sondern sind zu einer eigenen Disziplin geworden, wie Natalie Nagl, eine von Phillips Kletterpartnerinnen erklärt:

"Ich bin es gewohnt im Freien zu klettern. (...) Und die Stadt bietet da einiges an Möglichkeiten, um sich irgendwo raufzuhauen. Und es geht auch sehr stark ums Training, vor allem in der Sommerszeit, wenn man unter der Woche einfach keine Zeit hat, um in die Berge rauszufahren, da trifft man sich am Abend mit Freunden, klettert ein, zwei Stunden und verbessert so seine Kletterfähigkeiten auch im öffentlichen Raum, ohne was dafür zahlen zu müssen."

Sicher und stressfrei

Bouldern könnte man mit Blockklettern übersetzen. Die Geschichte des klassischen Boulderns ist schnell erklärt: In den 1940er und 50er Jahren mussten alle höchsten Gipfel der Welt bestiegen werden, beim Sportklettern in den 70ern dann die schwierigsten und gefährlichsten Gebirgswände, bis die Kletterer beim Bouldern schließlich wieder auf den sicheren und stressfreien Boden zurückkehren.

Auf kleinen Felsblöcken im Wald können schwierigste Bewegungsabläufe trainiert werden. Der Psychofaktor Höhe, gegen den man beim Sportklettern in den Bergen zu kämpfen hat, fällt dabei weg. Obwohl Bouldern und Sportklettern in etwa gleich alt sind, hat das Klettern an kleinen Blöcken erst in den letzten zehn Jahren stark an Beliebtheit gewonnen. Sicherungen - wie Bohrhaken, Seil oder Klettergurt - braucht man beim Bouldern nicht, denn auch die schwierigeren Routen sind maximal vier bis fünf Meter hoch. Auf jeden Fall aber niedrig genug, um bei Bedarf sicher abspringen zu können. Das Crashpad, die Schaumstoffmatte am Boden, schützt die Kletterer noch zusätzlich vor einem allzu harten Aufprall.

Für den Rest der Ausrüstung braucht man nur noch Kletterschuhe, um auf kleinsten Tritten Halt zu finden und Magnesium gegen schwitzende Hände. Wenn man genug von einer Route hat, wird die Matte zu einem überdimensionalen rechteckigen Rucksack gepackt und man wandert zum nächsten sogenannten "Problem".

Freude an der Bewegung

Oft dürfen nicht alle Griffe, die der Felsen bietet, berührt werden. So erhöht sich die Schwierigkeit einer Route. In speziellen Führern und auf Webseiten kann man sich einen Überblick über die einzelnen Gebiete verschaffen. Dort sind auch die Schwierigkeiten der einzelnen Mini-Routen angeführt. Für die Bewertungen stehen verschiedene Skalen zur Verfügung. Wobei das Messen und der sportliche Vergleich beim Bouldern gar nicht so wichtig sind, im Zentrum steht mehr die Freude an der Bewegung und deren Ästhetik, so Phillip Stromer:

"Ich finde, man sollte eigentlich den Schwierigkeitsgrad an sich selber messen und meiner Meinung nach hat man, egal ob man eine leichte Route oder eine schwere klettert, immer Spaß beim Klettern, egal wie schwer die Route ist, Hauptsache man ist dabei gefordert."

Eisenkonstruktionen und Glasfassaden

Der urbane Raum hat das klassische Bouldern an Felsblöcken um einige Spielarten erweitert. Geklettert wird in der Stadt eigentlich überall: Bushaltestellen, Straßenschilder, Denkmäler, Hausfassaden oder Brücken dienen den Sportlerinnen und Sportlern als Betätigungsfeld. Das ursprüngliche Kletterelement Stein wurde um Eisenkonstruktionen und Glasfassaden erweitert.

Urban Bouldern oder Buildering, wie es auch genannt wird, ist wahrscheinlich schon so alt wie die Gebäude selbst. Obwohl die Dokumentationen nicht so weit zurückgehen, ist anzunehmen, dass immer schon auf Gebäuden geklettert wurde. Erst seit den frühen Stummfilmen gibt es Dokumente von Klettereien an Häusern, wenn auch nicht als Sport, sondern eher als Attraktion. "Zum Beispiel Harold Lloyd oder Buster Keaton, die in der Zwischenkriegszeit und in den 30er, 40er Jahren Wahnsinns-Stunts vorgeführt haben, die man heute noch bewundern kann."

Der "französische Spiderman"

Die alten Stummfilmstars sind immer noch Vorbilder für einige waghalsige Kletterer im Stadtraum. Sogenannte Free Solo Climber haben einen regelrechten Wettkampf daraus entwickelt, alleine und völlig ohne Sicherung auf Wolkenkratzer oder berühmte Monumente zu klettern. Mit Bouldern hat das zwar nichts mehr zu tun, aber der Werbeeffekt ist groß.

Einer ihrer berühmtesten Vertreter ist Alain Robert. Der "französische Spiderman", wie er genannt wird, hat bereits mehr als 70 Wolkenkratzer in aller Welt erklommen, darunter den Eifelturm und das Empire State Building. 1997 und 2007 versuchte Robert die Petronas Towers in Kuala Lumpur zu erklettern, wurde aber beide Male auf Höhe des 60. Stockwerks verhaftet. In der Nacht zum Dienstag, 29. März 2011, gelang es dem französischen Fassadenkletterer, den höchsten Turm der Welt, den Burdsch Chalifa in Dubai, zu erklimmen. 828 Meter Höhe oder 160 Stockwerke musste er dazu überwinden.

Rechtlicher Graubereich

Nicht nur die höchsten Bauwerke, auch berühmte Monumente, stehen im Fokus einiger Kletterer. In Bern etwa hat sich in den 1990er Jahren eine lebendige Szene entwickelt, die auch vor Denkmälern und alten Fassaden nicht Halt machte. Das Resultat war ein Kletterverbot in der ganzen Stadt.

Anders als am Donaukanal in Wien, dort stören die Kletterer niemanden. "Die Flexwand ist berüchtigt für ihre kleingriffigen Routen, die sehr schwierig zu halten sind. Der Stein ist sehr spitz und sehr scharfkantig", erklärt Philip.

Die Wiener Kletterer sind sich der Probleme, was die Legalität betrifft, bewusst. Klare Verbote gibt es keine. Und trotzdem ist die Kletterei auch hier irgendwo zwischen Legalität und Illegalität angesiedelt: "Man bewegt sich da eben in einem Graubereich, wo jeder für sich selber einschätzen muss, wie weit man gehen kann und soll. Der Graubereich hört für mich dort auf, wo's in Privatbesitz geht, der hört für mich dort auf, wo man Sachen beschädigen kann, wo man sich selber verletzen kann, was aber jeder für sich selbst einschätzen muss."

Routenführer im Web

Auf ihrer Website haben die Kletterer die schönsten Routen in Wien zusammengetragen. Dort sollte es keine Probleme mit Anrainern oder privaten Grundbesitzern geben. Und obwohl es auf den ersten Blick so scheint, als ob jede zweite Mauer dieser Stadt ein geeigneter Kletterort wäre, werden die Räume immer enger. In der Wiener Innenstadt sind die Kletterer eher selten anzutreffen, sie haben sich eher in die Außenbezirke zurückgezogen. "Da gehört eigentlich noch ziemlich viel der Stadt. Und da hat man durchaus viele, viele Möglichkeiten, sich dort auszutoben", so Natalie. "Aber in der Innenstadt wird's langsam sehr knapp, weil alles aufgekauft wird, leider."

"Unser Logo ist auch so eine kleine Anspielung auf diese Reglementierung im öffentlichen Raum", ergänzt Philip. "Unser Logo ist ein Verbotsschild, an dem ein Kletterer raufklettert. Und wir wollen versuchen auch grad durch bewusste kleine Überschreitungen dieser Regeln auch soziale Kontakte zu knüpfen. (...) Wenn man sich ein bisschen abseits der Normen und Regeln im öffentlichen Raum bewegt, können interessante Situationen entstehen. Und das bringt ein bisschen Schwung ins Leben."

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