Die Geschichte des nuklearen Zeitalters
Atom
Das Buch der amerikanischen Journalistin Stephanie Cooke erscheint gerade rechtzeitig zur Katastrophe im japanischen AKW Fukushima - man könnte auch meinen: zu spät. In der Taschenbuch-Ausgabe ist der Titel bereits auf "Atom. Die Geschichte des nuklearen Irrtums" adaptiert.
8. April 2017, 21:58
Die Journalistin, die für das Bulletin of Atomic Scientists arbeitet und Herausgeberin bei der Energy Intelligence Groupe ist, hat acht Jahre lang Material recherchiert und akribisch aufbereitet: Sie erzählt die Geschichte des nuklearen Zeitalters ab dem Abwurf der ersten Atombomben über Hiroshima und Nagasaki, über geheime militärische Atomtests, den Atomwaffensperrvertrag, die AWK-Unfälle von Three Mile Island und Tschernobyl, und politische Zusammenhänge von Rüstungsnationen wie USA, Pakistan, Irak und Nordkorea. Das Buch soll ein Appell sein, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.
Für den Krieg entwickelt
Mit den Worten des damaligen US-Präsidenten Truman hat die Welt 1945 von der ersten Atombombe erfahren - damit beginnt auch die ausführliche Erzählung von Stephanie Cooke.
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(Truman:) "Vor sechzehn Stunden hat ein amerikanisches Flugzeug eine Bombe auf Hiroshima abgeworfen, einen bedeutenden japanischen Militärstützpunkt. Diese Bombe besaß eine höhere Sprengkraft als zwanzigtausend Tonnen TNT. Dabei handelt es sich um eine Atombombe, eine Entfesselung der Urgewalt des Universums. Die Macht, mit der die Sonne scheint, richtet sich nun gegen jene, die dem Fernen Osten Krieg brachten."
"Auch wenn das Nuklearunternehmen die Welt noch nicht vernichtet hat, bietet uns seine Entwicklung keinerlei Garantien für die Zukunft", beschreibt Cooke den Ansporn für ihre Recherche über das Nuklearzeitalter.
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Für die meisten Menschen ist ein tatsächlicher Atomwaffeneinsatz absolut unvorstellbar. Doch in den politischen und militärischen Führungsriegen wurde das Undenkbare nicht nur denkbar, sondern auch machbar, ja sogar annehmbar. Die Leute planten nicht im luftleeren Raum, sondern es gab eine ganze Sekundärbranche für nukleare Kriegsspiele. Experten machen Karriere mit dem Nachdenken, Reden und Schreiben über Atomwaffeneinsätze und in der Militärelite gab es Generäle und Admirale, die auf Befehl sofort den Knopf gedrückt hätten.
Dokumente und Tagebücher als Grundlage
Stephanie Cooke berichtet sehr genau von Gesprächen mit Politikern und Wissenschaftlern, sie zitiert viele Reden und Briefe aus den 1950er und 60er Jahren. Die Dokumente geben einen guten Einblick, was Politiker, Forscher oder Geheimdienste damals tatsächlich über militärische Atomtests und Rüstungspläne von anderen Staaten gewusst haben. Viele Informationen stammen auch aus Tagebüchern von Zeitzeugen, Zeitungsarchiven und Regierungsdokumenten.
Cooke berichtet vom größten Bombentest der USA, der 1954 unter dem Codenamen "Bravo" mit einer Sprengkraft von 15 Megatonnen am Bikini-Atoll stattgefunden hat. Die weiße Asche, die vom Himmel fiel, hielten die Menschen auf den benachbarten Inselgruppen für Schnee. Dieser "radioaktive Schnee" hatte jedoch erhebliche gesundheitliche Folgen: Haarausfall, Brandwunden, krankhafte Blutbilder, psychische Krankheiten und Neugeborene mit Anomalien.
"Wir sind in der Bredouille" meint ein politischer Berater von Präsident Kennedy ein paar Jahre später, als sich dieser kurz vor seiner Rede zur Kubakrise 1962 befand. Kennedy hatte sich immer für ein Testverbot von Atomwaffen eingesetzt, vergeblich.
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Nun musste Amerika plötzlich erkennen, dass ein Krieg den thermonuklearen Holocaust auslösen könnte - und keine Seifenoper mit Situationskomik war. Die Amerikaner machten sich große Sorgen. In einer am nächsten Tag durchgeführten Gallup-Umfrage äußerte jeder Fünfte die Befürchtung, dass der dritte Weltkrieg unmittelbar bevorstand.
Rolle der IAEO
Auch Wien ist Schauplatz in Cookes Buch, seit der Gründung 1957 hat hier die IAEO, die internationalen Atomenergiebehörde, ihren Sitz. Cooke beschreibt das damalige Wien als ein Paradies für Spione, als ein Niemandsland zwischen Ost und West. Ein passender Ort für die IAEO, die für ihre Milde, fürs Wegschauen und fürs Vertuschen von Rüstungsvorhaben kritisiert wurde.
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Regierungsbeamte, die das zu unterbinden versuchten, fühlten sich wie Mauerblümchen bei einem Ball: Man übersah sie einfach. Und wenn sie Pech hatten, drohte sogar die Versetzung auf weniger sensible Posten.
Weder der Atomwaffensperrvertrag, der eher eine Formalität war, noch die internationale Atomenergiebehörde konnten beispielsweise die Bombenprogramme von Israel, Südafrika, Pakistan, Nordkorea und Iran stoppen, obwohl die internationale Atomenergiebehörde nachweislich von den Plänen gewusst hat. Wie immer gelangt die Öffentlichkeit erst viel zu spät an diese Informationen. Wie zum Beispiel auch in den 1990er Jahren, als die US-Energieministerin unter Präsident Clinton Strahlenexperimente öffentlich machte, die seit den 1940er Jahren durchgeführt wurden: Sie berichtet über eine Testreihe, bei der geistig behinderte Jugendliche in der Schule Haferflocken mit radioaktiven Spurenelementen zu essen bekommen haben, des weiteren wurden Strahlen-Experimente an Sträflingen und Schwangeren durchgeführt.
Das Netzwerk der Seilschaften
Beinahe resigniert resümiert Cooke gegen Ende ihres Buches über die Nutzung von Kernkraft.
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Sie mag aufgebläht sein, basiert aber auf Geld, Macht und dem engmaschigen Netzwerk von Seilschaften innerhalb des militärisch-industriellen Komplexes, vor dem schon Eisenhower gewarnt hatte. Kernwaffen haben die Welt ebenso wenig sicherer wie die Kernkraft den Westen vom Erdöl unabhängiger gemacht, und doch investieren wir immer weiter große Summen, Pläne und Rohstoffe in beides.
Der Beginn des Buches ist sehr subjektiv und romanhaft geschrieben, das Ende im pathetischen God-bless-America-Stil - das liest sich für ein Sachbuch etwas merkwürdig. Hat man sich daran gewöhnt, mit geschichtlichen Daten und technischen sowie physikalischen Fakten überhäuft zu werden, hilft das Buch aber, Hintergründe und politische Zusammenhänge der nuklearen Welt besser zu verstehen.
Service
Stephanie Cooke, "Atom. Die Geschichte des nuklearen Zeitalters", aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans Günther Holl, Kiepenheuer und Witsch
Kiepenheuer & Witsch - Atom