Gedichte von Daniela Seel

ich kann diese stelle nicht wiederfinden

Gedichte entstehen oft aus Lücken. Gerade aus sprachfernen Feldern von Erfahrung, Beobachtung und Welt lässt sich das Sagbare formen und nicht etwa aus einem Übermaß an Wissen. Die "Stelle" zu finden, von der aus ein lyrisches Archiv wirkt, das ist ein Teil der Kunst, die Daniela Seel schon lange beherrscht - jahrelang galt sie nicht umsonst als ein Geheimtipp in der deutschsprachigen Literaturszene.

Seit Ende der 1990er Jahre hat die 1974 in Frankfurt am Main geborene Lyrikerin ihre Gedichte in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Sie sind nun unter dem Titel "ich kann diese stelle nicht wiederfinden" bei kookbooks erschienen, ihrem eigenen Verlag, den sie seit einigen Jahren sehr erfolgreich als "Labor", als "Poesie in Lebensform" begreift und damit für das Glück unzähliger Leser sorgt, die von ihren ästhetisch gestalteten Büchern in der Zwischenzeit regelrecht abhängig geworden sind.

Genauer Blick

Bei Daniela Seel lässt sich ein Beharren auf Schönheit und Habtisches nicht nur an ihrer Arbeit als Verlegerin sehen, ihre eigene Sprache als Dichterin ist die Grundlage und Schablone für alle ihre Projekte. In ihrem Lyrikband können wir einer Sprache begegnen, die neben ihrer poetischen Dimension zeitgleich ein magnetisches Denken erschafft. Da heißt es etwa an einer Stelle: "du sagst, lass unsere arme segel sein,/ die an wolken stoßen, wer zuerst wegsieht. verliert."

Hier aber wird gerade nicht weggesehen, der genaue Blick, überhaupt Genauigkeit in allem prägt diese Gedichte. Nie spürt man intellektuelle Überheblichkeit bei Daniela Seel, nein, nichts ist trocken hier, alles lebt, vibriert, erfüllt und fühlt sich richtig an, schwebt und ist geerdet zugleich. Bei dieser Lyrikerin ist Sprache Sinn, Eigensinn und Sinnlichkeit, Zeichen und Leben, Haut und Gehirn, ein Lebensareal berührt immer das andere, jedes Wort hat eine Haut, die Filter ist, Filter für das Denken, für die Beobachtungsgabe dieser bis ins Seismographische fein arbeitenden Dichterin. Kurzum: Es sind zeitlose Stunden, die wir mit diesen Gedichten verbringen können und es sind Gedichte - das kommt nicht allzu oft vor -, die wie "seltsam gefaltete Ozeane" wirken und dabei eine konkrete Welt erschaffen, die formal genauso überzeugt wie es der Klang macht.

Es ist eine weiche und sanfte, wirklichkeitstaugliche und im Überfluss der Verknüpfungen lebende Tonalität, die nicht nur aufrüttelt, sondern auch denkerisch überzeugt und wieder einmal zeigt, wie sehr Sprache und Denken strukturell bis in die Einzelheiten der Syntax zusammengehören.

In einem Gedicht wird notiert: "kein ich verfügt über mich" und Daniela Seel verweist damit auf ein Zentrum ihrer Poesie, die jetzt schon eine Unverwechselbarkeit aufweist, an der sich manch ein anderer Gedichtband für Gedichtband abarbeiten muss.

Betörender Eigensinn

Warum gelingt das Daniela Seel so gut? Es ist der Eigensinn der betört, die Art, wie sie die Ablagerungen in den Wörtern ausforscht, wie sie Gefühle darstellt, Bilder auf ihre Glaubwürdigkeit abklopft, das eigene Erinnern seziert. Auch Berührungen sind bei ihr Protagonisten, immer wieder wird die Haut zur Sprachwand, zur Projektionsfläche ihrer Sätze; Wege und verschneite Landschaften sind Teil dieser lyrischen Topographie, die keine Ausgänge oder billige Lösungen anzubieten hat, sondern die Welt im Überfluss wahrnimmt und aus ihr derart zu schöpfen vermag: "im überfluss der zusammenhänge", heißt es in einem Gedicht, "wussten wir/ keine essenz auszumachen, keinen kern,/ in den anknüpfungspunkten keinen ausgang,// jedem detail fanden wir ein weiteres hinzuzufügen, noch/ einen verweis, ... eine fußnote/ im kopierten archiv der geschichten".

Es ist ein zärtliches, genaues, ein sinnvolles und sinnliches Beharren und Benennen, das Daniela Seel zu Recht den diesjährigen Hölderin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg eingebracht hat. Das ist in jeder Hinsicht ein Glücksfall, zunächst für die einzigartige Stimme dieser Autorin, die durch diese Auszeichnung gleich mit ihrem ersten Gedichtband verdientermaßen mehr Aufmerksamkeit bekommt.

Sinnliche Sätze

Aber ebenso ist es ein Glücksfall für ihre Leserinnen und Leser, denn mit diesen Gedichten können sie wieder auf die Spur eines Sprachmenschen kommen, der sich traut, eine in unserer Zeit so verpönte Frage wie die folgende in einem Gedicht zu stellen: "...was tun wir/ einander lächelnd an ich frage noch einmal was tun wir/ einander gutes und wann."

Eine solche Frage ist auch eine mutige Einübung in die Vielfalt möglicher Blicke, aus denen die Wunde wie die Hoffnung in nur einem Satz zu sprechen vermag. Bei dieser Lyrikerin stimmt im Wortsinne alles, formal, rhythmisch, klanglich. Daniela Seel wird noch viele Stellen in ihrer Sprache finden und sie hoffentlich alle in weiteren Gedichtbänden für ihre Leser und Leserinnen bewahren. Schon jetzt können wir sagen, dass die Langsamkeit, die sie mit ihrer Sprache in den Raum stellt, ein entscheidender Teil ihrer sinnlichen Sätze ist. Deshalb muss man diese Lyrikerin langsam lesen, so langsam wie ihr lyrisches Ich einmal bekennend sagt: "ich wollte langsam/ berührt werden // aus dieser lilie vom pulsieren/ aus möwe und licht frierend/ im linken blinzelnden auge // ... am hin/ gehaltenen hals verheißungen, gleich liegen sie da ich war/ in ihnen sie blieben."

Auch diese Gedichte werden Bestand haben, weil sie aus einer Tiefe kommen, die viel riskiert und die Stimme und Körper als eine Einheit sieht. Überhaupt ist der Körper die Schaltstelle für alle Erlebnisse, Netzwerke aus Erfahrungen und Abgründen, die hier als Tableau menschlicher Setzungen auftauchen. "ihrer stimme", heißt es da einmal in diesem Sinne, "habe ich immer vertraut, nicht den augen."

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Daniela Seel, "ich kann diese stelle nicht wiederfinden. Gedichte", Kookbooks

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