Themenschwerpunkt: Jahr der Chemie
M. oder Ein Monat ohne weißen Hemdkragen
Seit die Menschen Chemie betreiben, hatte M. neulich in einem Buch gelesen, haben sie etwa 100.000 synthetische Substanzen hergestellt - und die Hälfte davon, schrieb der Autor, seien schädlich.
16. September 2011, 10:45
M. hatte immer geahnt, dass die Chemie, die buchstäblich in allem steckte, eine Wissenschaft mit Nebenwirkungen war. Aber wenn diese Zahl stimmte, dann wurde jeder zusätzliche Alltagskomfort mit einem neuen Gift bezahlt.
Dieser Preis schien M. zu hoch und er beschloss, im nächsten Monat etwas mehr Flecken in seiner kleinen Welt zu tolerieren. Dass seine Hemden in dieser Zeit etwas weniger weiß strahlen würden, wollte er in Kauf nehmen.
Da sich M. in der Geschichte des Saubermachens bestens auskannte, erinnerte er sich an das Gewerbe der französischen "Dégraisseurs". Er verhielt sich wie einer dieser Fleckenputzer des 18. und 19. Jahrhunderts, die auf Straßen und öffentlichen Plätzen an Saumproben die Wirksamkeit ihrer Fleckenmittel demonstrierten.
M. behandelte seine Seidenhemden mit Ochsengalle, Franzbranntwein, Kalk und reiner Talkerde. Honig wurde mit Wasser und etwas Waschsoda in den Stoff gerieben, Rühreiflecken getrocknet und anschließend abgebürstet. Mit dem Kaugummi an der Hose machte M. kurzen Prozess, indem er das Beinkleid ins Tiefkühlfach steckte und dann den ausgehärteten Kaugummi abkratzte. Nur auf die Zersetzungsprodukte des Urins, die schon die Sumerer, Babylonier und Römer als Fleckenmittel entdeckt hatten, verzichtete er.
In diesem Monat, niemandem blieb es verborgen, trug M. etwas weniger saubere Kleidung. Seine weißen Hemden dufteten nicht nach Lavendel, Oleander oder Jasmin und fühlten sich nicht so kuschelig an. Das war kein gutes Gefühl. Andererseits war M. auch stolz, da sein Waschmittelverbrauch sich in diesem Monat deutlich reduziert hatte. Was hatte er in diesem Buch gelesen? Pro Kopf wurden allein in Deutschland jährlich rund zehn Kilo Haushaltswaschmittel verbraucht - machte in Summe etwa 800.000 Tonnen Waschmittel, die letztlich in der Umwelt landeten. Das erschien M. eindeutig zu viel, auch wenn die chemische Industrie an biologisch abbaubaren Waschmitteln forschte.
M. dachte an die Schaumberge in den Gewässern und die winzigen Strudelwürmer, Bachflohkrebse, Wasserläufer, an die Libellen und Fische, die in diesem Moment in einem Gebräu aus Tensiden, Bleichmitteln, Stabilisatoren, optischen Aufhellern, Duft- und Farbstoffen zugrundegehen mochten. Jedoch, M. war einigermaßen zufrieden. Es schien ihm, als wäre er auf andere Weise mit sich ins Reine gekommen, und er beschloss, den "Flecken-Monat" in seiner kleinen, sauberen Welt einzuführen. Was bedeutete schon ein strahlend weißer Hemdkragen, wenn es um die Erhaltung der Biodiversität ging?
M. schritt auf seinen begehbaren Putzschrank zu und öffnete die Tür. Sein Blick fiel auf Duftsprays, Teppich-Shampoos, Geschirrspülmittel, Möbelpolituren, Backofenreiniger, Toilettendesinfektionsmittel, Schimmelpilzkiller, Entkalker, Scheuermittel, Fensterputzmittel, Abflussreiniger … - es würde der schwierigste Monat im Jahr werden.